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Meine Literaturleseliste
Buchtitelbilder © www.buecher.de

Auf die­ser Sei­te lis­te ich eine Aus­wahl von Büchern auf, die ich ge­le­sen ha­be und die ich für le­sens­wert er­ach­te. Die Aus­wahl ist ab­so­lut sub­jek­tiv und spie­gelt eben mei­ne ei­ge­nen In­ter­es­sen wie­der. Viel­leicht ist den­noch et­was für Sie da­bei!
Angela Merkel: Freiheit
Wenn ich das Buch lese, egal an welcher Stelle, stellt sich das Gefühl ein »boah ohh! Ich hätte nie gedacht, dass Regieren sooo anstrengend sein kann!«
Wenn in Deutschland sich derzeit viele Mitbürger nicht richtig mit ihren Interessen vertreten fühlen, so sollen sie dieses Buch lesen, bevor sie sich beschwehren. Mir ist jedenfalls beim Lesen noch einmal klar geworden, wie schwer es ist, in einer multipolaren Welt verbindliche Regeln zu etablieren, die wirklich langfristig zielführend sind, sei es beim Thema Wirtschaft, Finanzen, Umwelt, Klimaschutz oder beim Kampf gegen Hunger und Ausbeutung.
Das Buch nötigt mir höchsten Respekt vor der Leistung Angela Merkels ab. Wenn das ihr Ziel mit dem Buch war, so ist ihr das gelungen!
Joana Osman: Wo die Geister tanzen
Die Au­to­rin re­kon­stru­ier­te an­hand we­nivger Ta­ge­bü­cher die Ge­schich­te ih­rer Groß­el­tern, die 1948 wie tau­sen­de an­de­re a­ra­bi­sche Fa­mi­li­en aus dem bri­ti­schen Man­dats­ge­biet (in dem Fall aus Jaf­fa) ver­trie­ben wor­den wa­ren. Die Flucht geht über den Li­ba­non in die Tür­kei und wie­der zu­rück in den Li­ba­non. Das Buch ist ei­ne Mi­schung von Fik­tion und Au­to­fik­tion. Die Au­tor­in lässt da­rin auf vir­tu­o­se Wei­se die Geister der Ver­gan­gen­heit tan­zen.
Jenny Erpenbeck: Gehen, Ging, Gegangen
Ich zitiere aus der Besprechung des Buches auf www.buecher.de: »Richard, emeritierter Professor, kommt durch die zufällige Begegnung mit den Asylsuchenden auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sie sucht: bei jenen jungen Flüchtlingen aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind.«.
Alina Bronsky: Pi mal Daumen
Ei­ne 53-jäh­ri­ge Lip­pen­stift-af­fi­ne Oma, im­mer bunt ge­klei­det und mit ho­hen Ab­sät­zen ver­sorgt, be­schließt, zu­sätz­lich zu ih­ren drei Ne­ben­jobs, et­was zu ma­chen, was sie bis­her in ih­rem Le­ben un­ter­las­sen hat → Sie be­schließt Ma­the­ma­thik zu stu­die­ren.

Da sie hin­sicht­lich Al­ter, Ge­schlecht, Sty­ling, in­ne­rer Hal­tung und bis­he­ri­ger Le­bens­pla­nung un­ter den Stu­die­ren­den ei­ne Au­ßen­sei­te­rin ist, be­kommt sie erst ein­mal Kon­takt zu ei­nem wei­te­ren Au­ßen­sei­ter un­ter den Stu­den­ten, dem 16-jäh­ri­gen hoch­be­gab­ten Os­car, dem Ich-Er­zäh­ler. Der Ken­nen­lern­dia­log ver­läuft fol­gen­der­ma­ßen (ich zi­tie­re):
»Os­car« sag­te ich, als sie die Num­mer ein­ge­tippt hat­te und mich fra­gend an­sah.
»Und weiter ?«
»Os­car Ma­ria Wil­helm Graf von Ebers­dorff.« Ich buch­sta­bier­te.
»Hil­fe«, sag­te Mo­ni. »Ist es okay, wenn ich kei­nen Knicks ma­che?«

In dem Stil geht es wei­ter. Ein wun­der­ba­res Buch, wel­ches mit la­ko­ni­scher Spra­che, die Ge­schich­te er­zählt. — Ich wer­de es mei­ner Toch­ter schen­ken, wel­che ge­ra­de Psy­cho­lo­gie stu­diert.
   
Eva Völler: Die Dorfschullehrerin Was die Hoffnung verspricht (Band 1)
Der Ro­man spielt im Jahr 1961. Er schil­dert das Schick­sal ei­ner jun­gen Grund­schul­leh­re­rin aus Ost-Ber­lin, die vor dem Bau der Ber­li­ner Mau­er zu­sam­men mit Ehe­mann und Toch­ter in den Westen flie­hen woll­te. Die Flucht wird von der Sta­si ver­hin­dert.
Der Ehe­mann kommt in der Haft um. Dank be­freun­de­ter Sta­si-Mit­ar­bei­ter kann die jun­ge Frau nach ei­ni­ger Zeit in der Haft doch noch in den Westen über­sie­deln. Die Toch­ter wird aus dem Kin­der­heim ent­las­sen und kommt in die Ob­hut der bei der Stasi als zu­ver­läs­sig gel­ten­den Groß­el­tern, die na­he der Gren­ze zu Hes­sen in der Rhön woh­nen.
So­wohl im Osten als auch im Westen herrsch­te zu der Zeit Leh­rer­man­gel. Die jun­ge Frau wird Leh­re­rin in der Dorf­schu­le in dem Dorf in Hes­sen, wel­ches we­ni­ge Ki­lo­me­ter west­lich des Wohn­or­tes der El­tern und der Toch­ter liegt. Sie hofft, ihre Toch­ter in den Westen ho­len zu kön­nen.


Eva Völler: Die Dorfschullehrerin Was das Schicksal will (Band 2)
Der zwei­te Teil spielt im Jahr 1964. Die Toch­ter und die El­tern der Leh­re­rin ha­ben nach ei­ner spek­ta­ku­lä­ren Flucht den Westen er­reicht. Da­mit ist das Haupt­ziel der Leh­re­rin erst ein­mal er­reicht. Aber jetzt stellt sich die Fra­ge, wie geht das Le­ben weiter? Ihr­en Freund den Arzt des Dorfes kann sie nicht ein­fach hei­ra­ten, dann wä­re ihre Stel­le als Leh­re­rin futsch. So war die Zeit da­mals!
Der zwei­te Teil ist nicht we­ni­ger span­nend als der Erste, denn jetzt zeigt sich, wie schwie­rig es ist, die ei­ge­nen Wer­te zu le­ben.
Tanja Kinkel: Reichenau - Insel der Geheimnisse
2024 ist es 1300 Jah­re her, dass der der Wan­der­mönch und spä­te­re Abt Pir­min das Kloster ge­grün­det hat­te. Acht Au­to­rin­nen histo­ri­scher Ro­ma­ne ha­ben sich zu­sam­men­ge­fun­den um zu den ver­schie­de­nen Zeit­ab­schnit­ten von 724 bis 1541 je­weils ei­ne histo­ri­sche Kurz­ge­schich­te zu schrei­ben. Ei­ner­seits Fik­tion, aber die­se ist o­ri­en­tiert an den histo­ri­schen Be­ge­ben­hei­ten und ver­mit­telt Wis­sens­wer­tes über die Ge­schich­te der Rei­chen­au.
Jenny Erpenbeck: Kairos
Die neun­zehn­jäh­ri­ge Ka­tha­ri­na und Hans, ein ver­hei­ra­te­ter Nar­zist, Mit­te fünf­zig, be­geg­nen sich En­de der acht­zi­ger Jah­re in Ost­ber­lin, zu­fäl­lig, und ver­lie­ben sich in ein­an­der. Die „Lie­bes­ge­schich­te” fin­de ich, po­si­tiv ge­sagt, un­er­heb­lich. Span­nend fin­de ich das im Buch be­schrie­be­ne ge­sell­schaft­li­che Wer­te­system und das Den­ken der Men­schen in den letz­ten Jah­ren der DDR.
Klaus Kordon: Die Einbahnstraße   ←  Ich komme von Klaus Kordon nicht los. Nach­dem ich Paule Glück Das Jahrhundert in Geschichten, Die Zeit ist kaputt Die Lebensgeschichte des Erich Kästner, 1848 Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Fin­ger hat die Hand, Im Spin­nen­netz und Julians Bruder ge­le­sen ha­be, fiel mir nun beim Be­such von Freun­den die­ses Ju­gend­buch in die Fin­ger. Es ist ein wun­der­ba­res Buch, wel­ches ge­eig­net ist, Ju­gend­li­che ü­ber die Ge­fah­ren des Dro­gen­kon­sums auf­zu­klä­ren:
An­dy ist von In­ga fas­zi­niert. Auch als sich her­aus­stellt, dass sie dro­gen­süch­tig ist, weicht er nicht von ih­rer Sei­te. Er haut mit ihr ab, taucht in ei­ner WG un­ter. Die Fra­ge, die sich in dem Buch stellt ist: Gibt es ei­nen Weg zu­rück aus dem Stru­del der Ab­hän­gig­keit oder ist es ei­ne Ein­bahn­stra­ße?
← Buchtitelbild © booklooker
J.L. Talmon: Die Ursprünge der totalitären Demokratie
Im Ur­laub bin ich im Mu­se­ums­ca­fe der In­sel Rei­chen­au auf die­ses Buch ge­sto­ßen. Das Ca­fé ist nicht nur ein Ca­fé — es ist ei­ne Bü­cher­stu­be, in der man Bü­cher ent­decken und so­gar aus­lei­hen kann. Man darf auch Bü­cher mit­brin­gen. Je­des Jahr ent­decken wir in dem Ca­fé et­was Neu­es.

Das Buch kam mir vor, wie aus der Zeit ge­fal­len. Erst­mals pub­li­ziert auf Eng­lisch im Jahr 1952, ist es in deut­scher Über­setzung zum Be­ginn des Jah­res 1961, al­so noch vor dem Bau der Ber­li­ner Mau­er, er­schie­nen. Der Au­tor, der in Po­len als Sohn ei­ner or­tho­do­xen jü­di­schen Fa­mi­lie ge­bo­re­ne Ja­cob Leib Tal­mon (* 14. 06. 1916 — † 16. 06. 1980) war zum Er­schei­nungs­zeit­punkt Pro­fes­sor für Mo­der­ne Ge­schich­te an der He­brä­i­schen Uni­ver­si­tät von Je­ru­sa­lem.

Das Buch ver­sucht zu zei­gen, dass sich im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert - gleich­zei­tig mit ei­nem „li­be­ra­len Typ der De­mo­kra­tie” und aus den­sel­ben Prä­mis­sen he­raus - ei­ne Ten­denz in Rich­tung auf das an­bahn­te, was wir als „to­ta­li­tä­ren Typ der Demokratie” be­zeich­nen könn­ten. Bei­de Strö­mun­gen ha­ben seit die­ser Zeit oh­ne Un­ter­bre­chung ne­ben­ein­an­der be­stan­den. Die Span­nung zwi­schen ih­nen bil­det ein wich­ti­ges Ka­pi­tel in der neu­e­ren Ge­schich­te. Den­ken wir an Un­garn oder auch an Po­len, so ist die Fra­ge nach der Qua­li­tät der De­mo­kra­tie auch nach dem Un­ter­gang der DDR zu ei­ner der ent­schei­den­den Kern­fra­gen un­se­rer Zeit ge­wor­den. Na­tür­lich be­schäf­tigt sich das Buch auch mit De­tail­fra­gen, die wir heu­te als we­ni­ger re­le­vant oder so­gar be­lang­los ein­stu­fen. Von heu­te aus ge­se­hen - er­scheint in der Tat die Ge­schich­te der letz­ten hun­dert­fünf­zig Jah­re als ein Weg zwi­schen „li­be­ra­ler De­mo­kra­tie” ei­ner­seits und „to­ta­li­tä­rer De­mo­kra­tie” an­de­rer­seits - ei­ne der fort­be­ste­hen­den Welt­kri­sen von heu­te.
Herbert Dutzler: Die Welt war eine Murmel
Die Ge­schich­te spielt 1968 und wird aus der Per­spek­ti­ve des zehn­jäh­ri­gen Sieg­fried Nie­der­mayr er­zählt, der mit sei­ner Fa­mi­lie, das heißt mit der Mut­ter Edel­traud, dem Va­ter Adolf und jün­ge­ren Schwester Uschi, mit dem Rei­se­bus (ein Au­to hat die Fa­mi­lie nicht) für ei­ne Wo­che nach Ita­lien ans Meer fährt.
Im Vor­jahr war ein Klas­sen­ka­me­rad der Ein­zi­ge in der Klas­se, der da­mit an­ge­ben konn­te, in den Fe­rien in Ita­lien am Meer ge­we­sen zu sein. Er wur­de da­für von al­len An­de­ren be­nei­det. Sieg­fried pack­te sei­ne Win­ne­tou-Bü­cher ein und freu­te sich schon da­rauf nach den Fe­rien auch zum er­le­se­nen Kreis der be­nei­de­ten Ita­lien­fah­rer zu ge­hö­ren.

Es sind die De­tails, die da­für sor­gen, dass der Ro­man für mich, der in den Sech­zi­ger-Jah­ren Kind war, noch ein­mal der Blick in die al­te Welt öff­net, in der es klar war, dass ei­ne Mut­ter sich um den Haus­halt und um die Kin­der­er­zie­hung zu küm­mern hat­te, der Mann das Geld nach Hau­se brach­te und in der es nur ei­nem pri­vi­le­gier­ten, klei­nen Teil der Kin­der, so wie Sieg­fried, ver­gönnt war nach den gro­ßen Fe­rien ins Gym­na­sium zu ge­hen, um spä­ter ein­mal „et­was Ge­schei­tes” zu wer­den. Sei­ne Mut­ter Edel­traud woll­te, dass er aufs Gym­na­sium geht, ... der Va­ter Adolf war eher da­für, dass er auf die Haupt­schu­le geht und dann in der Leh­re „et­was Ge­schei­tes” lernt.

Um das klar­zu­stel­len: Mei­ne El­tern wa­ren weit we­ni­ger „Sech­zi­ger” als die El­tern von Sieg­fried. Da bin ich ih­nen heu­te noch dank­bar da­für.
Stefanie Zweig: Das Haus in der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.1
Stefanie Zweig: Die Kinder der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.2
Stefanie Zweig: Heimkehr in die Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.3
Stefanie Zweig: Neubeginn in der Rothschildallee / Rothschildsaga Bd.4
Ich le­se ge­ra­de den ersten Band, den ich mir aus der Stadt­bü­che­rei aus­ge­lie­hen ha­be. Zu kau­fen gibt's das Buch nur noch als EBook.

Es be­ginnt zur Jahr­hun­dert­wen­de vom neun­zehn­ten zum zwan­zig­sten Jahr­hun­dert: Jo­hann Isi­dor Stern­berg, ein er­folg­rei­cher jü­di­scher Tuch­händ­ler, kaufte sich ein Mehr­fa­mi­lien­haus in der Roth­schild­al­lee 9 in Frank­furt am Main. Als 14 Jah­re spä­ter in Sa­ra­je­wo der öster­rei­chi­sche Trohn­fol­ger Franz Fer­di­nand er­mor­det wurde, rief der deut­sche Kai­ser „al­le deu­t­­schen Söh­ne” in den Krieg. Dem Ju­den Jo­hann Isi­dor Stern­berg stan­den die Trä­nen in den Au­gen. End­lich ge­hör­ten die Ju­den auch da­zu und durf­ten dem deut­schen Va­ter­land im Krie­ge die­nen! Als sein Erst­ge­bo­re­ner Sohn mit 18 Jah­ren zum deut­schen Heer ein­be­ru­fen wur­de, war der Mann stolz. Und — dann ge­hört die­ser Sohn zu den ersten Ge­fal­le­nen des Jah­res 1914.

Der Ro­man schil­dert das Le­ben die­ser gut­bür­ger­li­chen Fa­mi­lie und die Tra­gik die­ser Zeit.

Die Bän­de 2 bis 4 ha­be ich noch nicht ge­le­sen. Die Bän­de 3 und 4 ha­be ich mir schon ge­braucht be­sorgt. Fehlt nur noch der Band 2. So­bald ich den ha­be le­se ich wei­ter.
Nora­ Bossong: Die Geschmeidi­gen Meine G­en­er­ation und der neue Ernst des Lebens
Es geht um die Ge­ne­ra­tion der zwi­schen 1975 und 1985 Ge­bo­renen, um die „Ge­schmei­di­gen”. Das Buch tat mir gut, weil No­ra Bos­songs Blick auf un­se­re ak­tu­el­le ge­sell­schaft­li­che Si­tu­a­tion er­ken­nen lässt, dass hier ei­ne Ge­ne­ra­tion am Wer­ke ist, die nicht so schnell auf­gibt und sich den Her­aus­for­de­run­gen der Zeit stellt.
Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens
»Die Er­fin­dung des Le­bens« ist ei­ne au­to­bio­gra­phisch in­spi­rier­te Ge­schich­te ei­nes jun­gen Man­nes von sei­nen Kin­der­jah­ren bis zu sei­nen ersten Er­fol­gen als Schrift­stel­ler. Als ein­zi­ges über­le­ben­des Kind sei­ner El­tern, die im zwei­ten Welt­krieg und der Zeit da­nach vier Söh­ne ver­lo­ren ha­ben, wächst er in Köln auf. Der Kum­mer hat die Mut­ter ver­stum­men las­sen. Auch er, der letz­te ver­blie­be­ne Sohn, ist als Kind stumm und ge­winnt erst mit zu­neh­men­der Ich-Stär­ke sei­ne Spra­che wie­der. Er schafft den Ab­sprung nach Rom, wo er ei­ne Kar­ri­e­re als Pia­nist be­ginnt und nach de­ren Schei­tern mit dem Schrei­ben sein Glück zu ma­chen ver­sucht.
Der Ro­man hat mich fas­zi­niert. Wo­bei ich mir schwer da­mit tue, was es ei­gent­lich ist, was mich an dem Buch so fas­zi­niert ... . Viel­leicht kann ich das noch spä­ter in Wor­te fas­sen — dann er­gän­ze ich die Be­spre­chung ent­spre­chend.
Wolfgang Kessler: Das Ende des billigen Wohlstands Wege zu einer Wirtschaft, die nicht zerstört
Der Traum von ei­ner Wirt­schaft, die oh­ne Zer­stö­rung aus­kommt — Wolf­gang Kess­ler zeigt in dem Buch auf, dass es durch­aus Be­rei­che gibt, wo diese Vi­si­on be­reits ver­wirk­licht wur­de. Und er be­schreibt, was sich noch än­dern müsste und, wie teu­er es wird, da­mit »die Wirt­schaft, die nicht zer­stört« kei­ne U­to­pie bleibt.
Leeroy Matata: Zuhören ist die beste Antwort Was ich aus meinen Begegnungen gelernt habe
»Das Le­ben ist kein Hol­ly­wood­film mit mär­chen­haf­ter Wen­dung in den Schluss­mi­nu­ten. A­ber das soll­te uns nicht da­ran hin­dern, ü­ber die klei­nen Fort­schrit­te zu re­den, das Gu­te wahr­zu­neh­men, das pas­siert ist — oh­ne das Schlech­te zu ver­schwei­gen. Ich ha­be da­bei die Er­fahr­ung ge­macht, dass da­bei ei­ne un­glaub­li­che Ener­gie bei dem­je­ni­gen ent­steht, der spricht.«
Die­se po­si­ti­ve Grund­hal­tung durch­zieht das gan­ze Buch, in dem er sei­ne Er­leb­nis­se aus vie­len Ge­sprä­chen mit ca. 250 Men­schen be­schreibt, von de­nen er auf sei­nem in­zwi­schen be­en­de­ten YouTube-Ka­nal Vi­deos ver­öf­fent­licht hat.
Da­bei hät­te er selbst durch­aus Grund zur Kla­ge: Im Al­ter von 4 Jah­ren wird bei ihm ei­ne sel­te­ne Er­kran­kung der Kno­chen (so dass die­se brü­chig wer­den) diag­nosti­ziert. Nicht zu­letzt des­halb ist er auf den Roll­stuhl an­ge­wie­sen.
Katharina Höftmann Ciobotaru:Alef
In der Zusammenfassung es Inhaltes des Buches auf buecher.de ist zu lesen: »Alef ist der erste Buch­sta­be im he­brä­i­schen Al­pha­bet. Er steht für An­fang und En­de. Er steht sinn­bild­lich für die Be­zie­hung zwi­schen Ma­ja und Ei­tan. Sie wur­de in der DDR ge­bo­ren und ist im Rostock der 90er-Jah­re auf­ge­wach­sen - er ist Ju­de und lebt in Israel. Zwei Wel­ten pral­len auf­ein­an­der...«
Nach mei­nem Da­für­hal­ten ist es a­ber nicht das „Auf­ein­an­der­pral­len der Wel­ten”, son­dern die Ver­schie­den­ar­tig­keit der Men­schen die auf­ein­an­der­tref­fen, die das Buch so in­ter­es­sant be­schreibt.
Die meisten Men­schen kön­nen ei­ne Idee for­mu­lie­ren, was aus ih­rer Sicht „gut und rich­tig” ist. Oft ma­chen wir uns nicht klar, dass wir da­run­ter noch die in den meisten Fäl­len un­be­wuss­te Idee da­von ha­ben, was gut und rich­tig ist. Das Buch be­schreibt wun­der­bar, wie die­se bei­den E­be­nen ein­an­der in die Que­re kom­men kön­nen. Zum Glück klappt's in dem Buch ganz am Schluss doch, dass die bei­den ein­an­der (er-)fin­den.
Florian Wacker: Zebras im Schnee
Die­ses Buch ist ge­ra­de in Frank­furt to­tal an­ge­sagt. Im Au­gen­blick be­ginnt man sich dort mit der Ge­schich­te der 20er- und frü­hen 30er-Jah­re des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts zu be­schäf­ti­gen. Das war in Frank­furt ei­ne in­te­res­san­te Zeit — Die Stadt wur­de ge­mäß den Be­dürf­nis­sen der Zeit neu ge­stal­tet: Es wur­de ei­ne Ring­stra­ße um die Frank­fur­ter Ci­ty ge­baut. Ei­ne Stra­ße, die ich im­mer be­wun­dert ha­be. Wo man 2-spu­rig in je­der Rich­tung rund ums Zen­trum fah­ren kann und wo zwi­schen den Fahr­spu­ren ein noch brei­te­rer Grün­gür­tel mit ei­nem oder meh­re­ren Spa­zier­we­gen liegt, mit heu­te wun­der­ba­ren, teil­wei­se 100 Jah­re al­ten Bäu­men. In die­ser Zeit wur­den für die Ar­bei­ter­schaft vie­le so­zi­a­le Wohn­bau­ten er­rich­tet, in de­nen heu­te meist die wohl­ha­ben­den Frank­fur­ter woh­nen1. Es war eine Zeit des Auf­bruchs, die an­hand ei­ner fik­ti­ven Ge­schich­te in die­sem Buch be­schrie­ben wird.

1 Den­noch scheint mir die so­zi­a­le Durch­mi­schung in Frank­furt am Main bes­ser zu sein als in vie­len an­de­ren deut­schen Groß­städ­ten.
Bettina Stangneth: Überforderung Putin und die Deutschen
Das Buch re­flek­tiert die „Über­for­de­rung” der Deut­schen nach dem An­griff Pu­tins auf die U­kra­i­ne. Die ver­ba­le Re­ak­tion aus Deutsch­land auf den An­griff Pu­tins auf die U­kra­i­ne war ja schon e­her ein­deu­tig, a­ber als es um die Art und Wei­se ging, wie Deutsch­land re­a­gie­ren soll­te, ...
  • Waffenlieferungen oder nicht?
  • Wenn ja, welche Waffen ?
  • Wann, wohin?
Da di­ag­nosti­ziert die Au­to­rin bei uns Deut­schen „ängst­li­ches Den­ken” und dem ent­spre­chen­de „Ü­ber­for­de­rung”. Es sind kei­ne grund­le­gend neu­en Er­kennt­nis­se, die die­ses Buch bringt. Das Buch durch­dringt a­ber mei­nes Er­ach­tens die ak­tu­el­le Psy­cho­dy­na­mik nicht rich­tig, die da fol­gen­der­ma­ßen geht:
  • Wer rechts ein­ge­stellt ist, ver­ur­teilt den An­griffs­krieg Pu­tins nicht. In­di­rekt ent­schul­di­gen die­se Leu­te An­griffs­krie­ge ge­ne­rell und da­mit auch Hit­lers An­griffs­krie­ge.
  • Wer den An­griffs­krieg ver­ur­teilt, muss sich um­so mehr mit den mo­ra­li­schen Fol­gen des deut­schen Ü­ber­falls auf Po­len und spä­ter auf die Sow­jet­uni­on aus­ein­an­der­set­zen und ak­zep­tiert so den Ge­dan­ken ei­ner deut­schen Kriegs­schuld, was die ver­dräng­te Frage wie­der ins Be­wusst­sein rückt, wie wir Deut­schen ad­ä­quat mit un­se­rer Ver­gan­gen­heit um­ge­hen sol­len. Die Kon­se­quen­zen sind dann „Ü­ber­for­de­rung” und „ängst­li­ches Den­ken”.
Ulrike Schweikert: Tränenpalast Berlin Friedrichsstraße
Friedrichstraßensaga Bd.2
Ich bin versucht zu sagen „ein Frauenbuch”. Das stimmt und es stimmt auch nicht. In erster Li­nie ist der Ro­man die Fort­set­zung ei­nes frü­he­ren Bu­ches von Ul­ri­ke Schwei­kert ü­ber vier Freun­de, Ro­bert, Jo­han­nes, El­se und El­la, die in der Zeit zwi­schen den zwei Welt­krie­gen auf­ge­wach­sen sind. Der zwei­te Band be­schreibt die Zeit vom End­e des zwei­ten Welt­kriegs bis zum Bau der Mau­er um West-Ber­lin, bis zu dem Zeit­punkt, wo aus dem Bahn­hof Fried­rich­stra­ße das Sym­bol der Tren­nung zwi­schen Ost- und West­deutsch­land ge­wor­den ist und zu dem Ort wur­de, wo die Ab­schieds­trä­nen flos­sen.
Ne­ben­bei ist es die Ge­schich­te ei­nes les­bi­schen Lie­bes­paa­res, et­was, was es zu die­ser Zeit ei­gent­lich nicht ge­ben durf­te.
Ich ha­be aus dem Buch viel er­fah­ren über die Zeit, als mei­ne El­tern noch Ju­gend­li­che und spä­ter jun­ge Er­wach­se­ne wa­ren.... Gut re­cher­chiert und span­nend ge­schrie­ben!
Klaus Kordon: Paule Glück Das Jahrhundert in Geschichten
Wenn es in mei­ner Kind­heit so ein Buch ge­ge­ben hät­te, dann hät­te mich das Fach Ge­schich­te si­cher mehr in­ter­es­siert und ich hät­te ei­nen bes­se­ren Zu­gang zu dem Fach ge­fun­den.
In drei­zehn Ge­schich­ten er­zählt Klaus Kor­don die Ge­schich­te des 20. Jahr­hun­derts. So wird das Le­bens­ge­fühl die­ser un­ter­schied­li­chen Zei­ten an­hand der Schick­sa­le der in den Er­zäh­lun­gen vor­kom­men­den Per­so­nen nach­voll­zieh­bar und nach­fühl­bar. Das Buch eig­net sich auch um Men­schen, die neu nach Deutsch­land ge­kom­men sind, die deutsche Ge­schich­te na­he­zu­brin­gen. Ein wun­der­ba­res Buch!
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten Mein Gegenprogramm - für Gemeinsinn und Zusammenhalt
Die Frau nervt. Na­tür­lich hat sie Recht, wenn sie sagt, dass heut­zu­ta­ge ei­ne Par­tei, wie die SPD nicht mehr wirk­lich die In­ter­es­sen der Ar­bei­ter und der ein­fa­chen An­ge­stell­ten ver­tritt. Na­tür­lich hat sie Recht, mit der Aus­sa­ge, dass Out­sour­cing in der Re­gel be­deu­tet, dass die An­ge­stell­ten dann we­ni­ger Geld für die glei­che Ar­beit be­kom­men. Na­tür­lich hat sie Recht, wenn sie be­schreibt, dass es ei­nen Schwund an In­dustrie­ar­beits­plät­zen in der Pro­duk­tion gibt und da­für mehr so ge­nann­te „bull­shit-jobs”, wo­durch die Angst vor dem so­zia­len Ab­stieg zur prä­gen­den Er­fah­rung für vie­le Men­schen wur­de.

      Ver­dammt noch­mal — ist das mei­ne Schuld? Muss ich mich jetzt auch noch da­rum küm­mern?
      Und hilft das Ge­we­se, wel­ches sie ge­ra­de ver­an­stal­tet mit ih­rer Par­tei­grün­dung, aus die­ser Si­tu­a­tion raus? — Nö! Wie auch?
      Wer jetzt sich im­mer noch auf­re­gen möch­te, muss das Buch le­sen.
Manfred Rommel: Trotz allem heiter Erinnerungen
Man­fred Rom­mel kam we­ni­ge Mo­na­te vor mei­nem Va­ter zur Welt. Zu Glück sind die Er­in­ne­run­gen mei­nes Va­ters, der in et­wa gleich alt ist, wie Man­fred Rom­mel, we­ni­ger trau­ma­tisch als die von Man­fred Rom­mel: Als Fünf­zehn­jäh­ri­ger musste er mit­er­le­ben, wie sein Va­ter von Hit­lers To­des­kom­man­do ab­ge­holt und in den Selbst­mord ge­trie­ben wur­de.
In den Nach­kriegs­jah­ren war Man­fred Rom­mel zu­nächst Fi­nanz­po­li­ti­ker in Ba­den-Würt­tem­berg und ar­bei­te­te zeit­wei­se auch in Bonn. Spä­ter war er Stutt­gar­ter Ober­bür­ger­meister und als sol­cher im In- und Aus­land hoch ge­schätzt.

In dem Buch wer­den vie­le Er­eig­nis­se be­rich­tet, die ich als Kind am nur Ran­de mit­be­kam, wenn mei­ne El­tern oder Groß­el­tern ü­ber die­se Er­eig­nis­se spra­chen und dis­ku­tier­ten.
Christhard Läpple: So viel Anfang war nie Notizen aus der ostdeutschen Provinz
Den Au­tor ken­ne ich seit Kin­der­ta­gen, da sein Va­ter ein Vet­ter mei­ner Mut­ter war. Was ich nicht wusste, dass er of­fen­bar, so wie ich, spä­ter auch nach der Wen­de in den Osten Deutsch­lands ge­zo­gen war und dort Er­fah­run­gen ge­macht hat, die wohl in das Buch »So viel An­fang war nie« ein­ge­flos­sen sind. je­den­falls han­delt es sich hier um ei­ne sehr plasti­sche Wie­der­ga­be des­sen, was of­fen­bar die Wen­de in den Men­schen ei­nes klei­nen Dor­fes aus­ge­löst hat.

In deut­lich ab­ge­schwäch­ter Form ist es das, was auch vie­le mir heu­te so aus der Wen­de­zeit be­rich­tet ha­ben. In­so­fern war das Buch für mich ein zu­sätz­li­cher Ein­blick in das See­len­le­ben der Ost­deu­tschen nach der Wen­de. Das hat zu mei­nem Ver­ständ­nis für die Men­schen bei­ge­tra­gen und ein we­nig wei­ter­ge­hol­fen.


Christhard Läpple: Verrat verjährt nicht Lebensgeschichten aus einem einst geteilten Land
Dieses Buch, in dem es offenbar um die Stasi geht, ist 10 Jahre vor dem anderen erschienen und liegt noch zum Lesen in meinem Bücherregal.
Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit
Wie­der ein „Kal­ter Krieg-Be­wäl­ti­gungs-Ti­tel” — Das ist nicht ab­schät­zig ge­meint. — Dies­mal geht es um ei­nen Pfar­rers­sohn, der in der DDR kein A­bi­tur ma­chen durf­te. (Auf ir­gend ei­ne Art und Wei­se taucht hier schon wie­der An­ge­la Mer­kel als Pfar­rers­toch­ter und Aus­nah­me auf: Sie durf­te im Osten A­bi­tur ma­chen und stu­die­ren. War das die Frau­en­quo­te? Und was wä­re pas­siert, wä­re An­ge­la ein Mann ge­we­sen?)

So­lan­ge die Gren­ze noch of­fen war, konn­ten die­se Kin­der in den Westen, in ein Schü­ler­heim zie­hen, wo sie wohn­ten und von wo aus sie ins Gym­na­sium gin­gen. Ty­pi­scher­wei­se wa­ren das kirch­li­che Ein­rich­tun­gen für die Kin­der der »ar­men Glau­bens­brü­der und -schwes­tern« im Osten.

Spä­ter konn­ten sei­ne El­tern nach Ost­ber­lin zie­hen. Er wohnte ab da wie­der bei ih­nen und pen­del­te täg­lich in sein west­ber­li­ner Gym­na­sium. — Bis quer durch Ber­lin ei­ne Mau­er ge­baut wur­de . . .
Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders
Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst Novelle
Uwe Timm schreibt ü­ber sei­nen 1924 ge­bo­re­nen und 1943 in ei­nem La­za­rett in der U­kra­i­ne ver­stor­be­nen äl­te­ren Bru­der. Er hat­te sich frei­wil­lig zur Waf­fen-SS ge­mel­det. Man könn­te sa­gen — ei­ne Ge­schich­te, wie es sie in Deutsch­land häu­fig gab. Uwe Timm konn­te die Ge­schich­te erst nach dem Tod der Mut­ter und der äl­te­ren Schwester auf­schrei­ben, als sie bei den An­ge­hö­ri­gen nicht mehr neu­e Ver­letzun­gen, Wut oder Ab­wehr ge­ne­rie­ren konn­te. Die­se zeit­li­che Dis­tanz kommt dem Buch zu­gu­te.
Das zwei­te Buch von Uwe Timm ha­be ich im Ur­laub ge­les­en. Es geht im ei­ne im Al­ters­heim le­ben­de über 80-jäh­ri­ge, die be­rich­tet, wie sie kurz vor Kriegs­en­de ei­nen jun­gen de­ser­tier­ten Ma­ri­ne­sol­da­ten in ih­rer Ham­bur­ger Woh­nung ver­steckt hat und ein Lie­bes­ver­hält­nis mit ihm an­ge­fan­gen hat. Um ihn nach En­de des Krie­ges nicht zu ver­lie­ren ver­schweigt sie ihm, dass die Wehr­macht in Ham­burg längst ka­pi­tu­liert hat. Sie hält ihn in ih­rer Woh­nung fest, ver­sorgt ihn mit Fake-News ü­ber die an­geb­lich fort­dau­ern­den Kämpfe und mit Nah­rung.
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Arye Sharuz Shalicar1 (hebräisch: אריה שרוז שליקר) wuchs als Sohn von aus dem I­ran stam­men­den El­tern jü­di­schen Glau­bens im Ber­lin der 80er und 90er-Jah­re auf. 2001 wan­der­te er nach Is­ra­el aus. In sei­ner Au­to­bio­gra­phie mit dem Ti­tel Ein nas­ser Hund ist bes­ser als ein trocke­ner Ju­de Die Ge­schich­te ei­nes Deutsch-I­ra­ners, der Is­ra­e­li wur­de, be­rich­tet er ü­ber sei­ne Er­fah­run­gen, die er in sei­ner Ju­gend in Ber­lin mach­te. I­den­ti­fi­zier­te man ihn als nicht 100%-Deutsch­stäm­mi­gen, er­leb­te er sich stets als nicht 100% da­zu­ge­hö­rig, als fremd im ei­ge­nen Land. Nur in sei­ner kri­mi­nel­len Ju­gend­gang im Wed­ding wur­de er schließ­lich ak­zep­tiert. Was die­ses Buch so be­son­ders macht, ist das Ver­ständ­nis des Au­tors so­wohl für die Be­find­lich­keit der Mus­li­me (e­gal ob sie aus dem a­ra­bi­schen Raum oder aus dem Iran stam­men), für die Be­find­lich­keit der Ju­den (in Deutsch­land und in Is­ra­el) und sein Wis­sen um die Denk­wei­sen der Deut­schen.
Die Ent­schei­dung da­rü­ber, was wir mit den aus dem Buch ge­won­ne­nen Er­kennt­nis­sen an­fan­gen und ob wir zwi­schen den ver­schie­de­nen Grup­pen im ei­ge­nen Land Brücken bau­en wol­len o­der nicht, müs­sen wir, die Le­ser, a­ber sel­ber tref­fen. Dass das nicht oh­ne Kon­flik­te ab­geht, ha­ben wir ja in den ver­gan­ge­nen Ta­gen schon er­lebt.

1 Von Ok­to­ber 2009 bis An­fang 2017 war Sha­li­car ei­ner der vier of­fi­zi­el­len Spre­cher der is­ra­e­li­schen Ar­mee. Seit 2017 ar­bei­tet er in der is­ra­e­li­schen Re­gie­rung. Er ist dort Ab­tei­lungs­lei­ter des Be­reichs in­ter­na­tio­na­le Be­zie­hun­gen. Nach dem Ter­ror­an­griff der Ha­mas auf Is­ra­el, 2023, wur­de er wie­der als Spre­cher der is­ra­e­li­schen Streit­kräf­te re­ak­ti­viert.
2021 war die­ser Ro­man ver­filmt wor­den.
Elke Heidenreich: Frau Dr. Moormann & ich
In der Buchbesprechung auf buecher.de steht »Ei­ne nach­bar­schaft­li­che Hass­lie­be vol­ler Lei­den­schaft. El­ke Hei­den­reich bril­liert mit sprü­hen­dem Witz und klu­gen Be­ob­ach­tun­gen.« — dem ist nichts hin­zu­zu­fü­gen.
Susanne Abel: Stay away from Gretchen Eine unmögliche Liebe
Als De­nis Scheck das Buch in der ARD vor­stell­te, sag­te er: »Die­ser gut konstru­ier­te Ro­man (...) er­in­nert da­ran, wie lang der Weg aus ei­nem von Ras­sis­mus und Bi­got­te­rie ge­präg­ten Nach­kriegs­deutsch­land war und wel­che Weg­strecke zu ei­ner ge­rech­te­ren Ge­sell­schaft noch vor uns liegt.«. Selbst auf die Ge­fahr hin, dass ich mich hier wie­der­ho­le. Es ist ein Se­gen, dass jetzt in der Li­te­ra­tur im­mer wie­der die Nach­kriegs­zeit in den Blick kommt und auf­ge­ar­bei­tet wird. Vie­les von dem, was in dem Buch be­schrie­ben wird, habe ich auch noch in den 60ern des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts mit­be­kom­men, ab­er e­ben erst spä­ter ver­stan­den.

Kurz zum In­halt: Ein schwar­zer GI ver­liebt sich in Hei­del­berg in ein deut­sches Mäd­chen. Es kommt ein Kind zur Welt und die Bei­den wol­len hei­ra­ten, was von den El­tern des Mäd­chens ver­hin­dert wird. Das deut­sche Ju­gend­amt ent­zieht der Mut­ter das Kind und das Kind kommt in di­ver­se Hei­me. Die Mut­ter sucht das Kind, fin­det es a­ber nicht mehr, denn es wur­de mitt­ler­wei­le, mit der Be­grün­dung, da ge­he es dem Kind bes­ser, zur A­dop­tion in die USA ver­bracht.

Ob­wohl das ein 544-Sei­ten-Buch ist, wird es zu kei­nem Zeit­punkt lang­wei­lig.
Maxim Leo: Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
Das Buch re­flek­tiert in­di­rekt das Ver­hält­nis von Ost- und West-so­zi­a­li­sier­ten Men­schen, wie sie auch ü­ber 30 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung, ü­ber 30 Jah­re nach dem An­schluss der DDR an die Bun­des­re­pub­lik un­ter­schied­lich ticken.

Mi­cha­el Har­tung, der frü­her als Stell­werks­meister bei der Ost­ber­li­ner S-Bahn ge­ar­bei­tet hat­te, soll ei­ne Mas­sen­flucht von 127 Men­schen vom Bahn­hof Fried­richs­stra­ße aus in den Westen er­mög­licht ha­ben. So steht es in sei­nen Sta­si-Ak­ten und er be­kommt jetzt Be­such von ei­nem Jour­na­listen, der Ge­nau­e­res wis­sen will. Es dau­ert nicht lan­ge, da wird Har­tung als Held vom Bahn­hof Fried­rich­stra­ße ge­fei­ert und er ist be­lieb­ter, gern ge­se­he­ner und ge­fei­er­ter Gast in al­len mög­li­chen Fern­seh­sen­dun­gen.
Dass Mi­cha­el Har­tung ei­ne sol­che Flucht nie­mals ge­plant hat­te und dass er zu­fällig, auf­grund ei­nes Miss­ver­ständ­nis­ses, die Wei­che so ge­stellt hat­te, das hat plötz­lich kei­nen Platz mehr in der me­di­a­len Wirk­lich­keit. Har­tung ist am En­de ein Held wi­der Wil­len.

Ich ha­be mich wäh­rend des Le­sens mehr­mals ge­fragt, wie kann der Au­tor ei­ne so ful­mi­nant er­zähl­te Ge­schich­te ver­nünf­tig zu En­de brin­gen? Er tut es auf die mei­nes Er­ach­tens ein­zig mög­li­che Wei­se. Mehr sei nicht ver­ra­ten. Bril­li­ant!
Richard David Precht: Freiheit für alle Das En­de der Arbeit wie wir sie kannten
Un­ser Klas­sen­leh­rer der 4.Klas­se hat uns pro­phe­zeit, dass wir es gut hät­ten, denn ab dem Jahr 2000 müssten wir nicht mehr ar­bei­ten, denn dann wür­den die Wa­ren von Ro­bo­tern her­ge­stelt und wir müssten dann nur noch die her­ge­stell­ten Wa­ren kon­su­mie­ren.
Ei­ner­seits spot­te ich im­mer, dass ich noch da­rauf war­te, dass die Pro­phe­zei­ung mei­nes Klas­sen­leh­rers end­lich in Er­fül­lung geht und dass er sich zeit­lich doch sehr ver­schätzt hat. Da­bei ge­rät aber lei­der aus dem Blick, dass mein Leh­rer sich hin­sicht­lich der Ro­bo­ter und der Com­pu­ter nicht so sehr ge­irrt hat, die jetzt die Ar­beits­welt prä­gen und er sehr wohl da­mit Recht hat­te, dass es bei der Arbeit heut­zu­ta­ge im­mer we­ni­ger da­rum geht un­se­re Exi­stenz zu si­chern. Wir ar­bei­ten um zur Er­werbs­ar­beits­ge­sell­schaft da­zu­zu­ge­hö­ren. Es kommt im­mer mehr auf die Qua­li­tät und die ge­nau­en Um­stän­de des Ar­bei­tens an und in­wie­fern die Ar­beit der »Selbst­ver­wirk­li­chung« dient.
John Strelecky: Das Cafe am Rande der Welt Eine Erzählung über den Sinn des Lebens
Ein viel be­schäf­tig­ter Wer­be­ma­na­ger macht in e­inem Ca­fé halt. Auf der Spei­se­kar­te ste­hen ne­ben dem Me­nü des Ta­ges drei Fra­gen: »Wa­rum bist du hier? Hast du Angst vor dem Tod? Führst du ein er­füll­tes Le­ben?« Der Ma­na­ger wird neu­gie­rig. An­statt wei­ter­zu­fah­ren bleibt er und be­ginnt mit Hil­fe der An­we­sen­den ü­ber die­se Fra­gen nach­zu­den­ken. Er schaut mit ei­nem Mal ganz an­ders auf die Welt auf sei­ne Be­zie­hun­gen und auf sei­ne Mit­men­schen.
Alina Bronsky: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Ich ha­be das Buch vor Jah­ren ge­le­sen und jetzt wie­der­ent­deckt.
"Als mei­ne Toch­ter Sul­fia mir sag­te, sie sei schwan­ger, wis­se a­ber nicht, von wem", mit dem Satz be­ginnt der Ro­man. Die Ta­ta­rin Ro­sa­lin­da ist die Ich-Er­zäh­le­rin. Es fehlt Ro­sa­lia nicht an Selbst­be­wusst­sein. Sie ist die Ma­tri­ar­chin, die ver­sucht al­les zu kon­trol­lie­ren. Ob­wohl sie ei­ne an­stren­gen­de, sehr her­ri­sche, ich-be­zo­ge­ne Per­son ist, hat ein Herz für ihre En­ke­lin und auch für ih­re Toch­ter, auch wenn sie dies nicht di­rekt zei­gen kann. Ganz ne­ben­bei er­fährt man viel ü­ber die rus­si­sche Ge­sell­schaft, ge­ra­de auch da­durch, dass dar­ge­stellt wird, was mit der Fa­mi­lie pas­siert, als sie in den 90er-Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts ins E­xil nach Deutsch­land zieht.
Mark Aldanow: Der Anfang vom Ende
1919 floh der da­mals 33-jäh­ri­ge Au­tor, wie so vie­le sei­ner Lands­leu­te, aus Kiew vor den Bol­sche­wi­ken ins Exil nach Pa­ris. Mark Al­da­now ist ein Syn­o­nym für Mor­de­chai-Mar­kus Is­ra­e­li­witsch Lan­dau. Er war Nach­kom­me ei­ner öster­reich-jü­di­schen In­dustri­el­len­fa­mi­lie, hat­te an­geb­lich Ju­ra und Na­tur­wis­sen­schaf­ten stu­diert und ar­bei­te­te als Che­mi­ker. Vor sei­nem 30 Ge­burts­tag hat­te er ne­ben sei­nen wis­sen­schaft­li­chen Ver­öf­fent­li­chun­gen auch „ne­ben­bei” noch li­te­ra­tur­histo­ri­sche Auf­sät­ze und Bü­cher ver­fasst. Sein Ro­man »Der An­fang vom En­de« er­schien 1943 in eng­li­scher Ü­ber­set­zung. Vor sei­nem Tod 1957 äu­ßer­te Al­da­now die Be­fürch­tung, dass die­ses Buch nie­mals in der O­ri­gi­nal­spra­che auf Rus­sisch er­schei­nen wer­de. Bei­nahe hät­te er Recht ge­habt. Es dau­er­te bis in die 1990er-Jah­re, bis wäh­rend dem Zer­fall der Sow­jet-U­ni­on das Buch auch auf Rus­sisch er­schei­nen konnte.
Die mei­nes Er­ach­tens beste Zu­sam­men­fas­sung des In­halts lie­fer­te der 1981 ge­bo­re­ne rus­si­sche Jour­na­list Ser­gei Le­bedew: „Was Al­da­nows Buch heu­te so ak­tu­ell macht, ist die­ses Ge­fühl der ab­so­lu­ten mo­ra­li­schen Ka­ta­stro­phe, die ü­ber Russ­land he­rein­ge­bro­chen ist, das Ge­fühl des 'An­fangs vom En­de'.”
Catherine Liu: Die Tugendpächter Wie sich eine neue Klasse mit Moral tarnt und Solidarität verrät
Tu­gend­päch­ter, das sind wir. Wir ha­ben die Tug­end ge­pach­tet.
Auch wenn das Buch ur­sprüng­ich die Ent­wick­lung der ge­sell­schaft­li­chen Un­ter­schie­de zwi­schen Klas­sen und Ras­sen in den USA be­schreibt — Es gibt es doch hin­sicht­lich des in dem Buch be­schrie­be­nen Pä­no­mens, ei­ner Pro­fes­sio­nal Ma­na­ge­rial Class (PMC), mehr Ge­mein­sam­kei­ten zwi­schen Deutsch­land und den USA, als ich auf den ersten Blick er­war­tet ha­be.
Wir, die wir A­ka­de­mi­ker in gut be­zahl­ter Stel­lung sind, dort Ver­ant­wort­ung trag­en und uns en­ga­gier­en. Wir woll­en und kön­nen uns in un­se­rer Po­si­tion für mo­ra­lisch mög­lichst ad­ä­qua­tes, mensch­li­ches Vor­ge­hen ein­setzen. Und oft ge­lingt uns das auch. Wir äu­ßern uns auch den An­de­ren ge­gen­ü­ber ent­spre­chend.
A­ber wir sind nicht kon­se­quent. Ein Bei­spiel: Wir Ärz­te sind der Mei­nung, dass die in der Pfle­ge Ar­bei­ten­den viel bes­ser be­zahlt wer­den müssten. Man fragt sich nur — Was tun wir da­für? Letzt­lich tra­gen wir mit un­se­rer Hal­tung weit mehr zu der zu­neh­men­den Spal­tung der Ge­sell­schaft in Arm und Reich bei, als wir das wahr­ha­ben wol­len.
Otfried Höffe: Die hohe Kunst des Alterns Kleine Philosophie des guten Lebens
Otfried Höffe: Sittlich-politische Diskurse Philosophische Grundlagen, politische Ethik, biomedizinische Ethik
Ich weiß nicht mehr, wo ich auf Ot­fried Höf­fe ge­sto­ßen bin. Er wur­de Pro­fes­sor in Tü­bin­gen, zwei Jah­re nach­dem ich von dort weg bin. Ich weiß nur, dass ich früh in mei­nem Me­di­zin­stu­dium die 1981 er­schie­ne­nen »Sitt­lich-po­li­ti­schen Dis­kur­se« in die Hän­de be­kam. Ich war fas­zi­niert von ihm, weil er zu der Zeit als wir im Me­di­zin­stu­dium zum Bei­spiel uns da­mit be­schäf­tigt ha­ben, wel­che neu­en Mög­lich­kei­ten die Ge­ne­tik bot. Als ei­ner der Ersten hat er die da­raus re­sul­tie­ren­den e­thi­schen Di­men­sio­nen dis­ku­tiert: Wel­che Ein­grif­fe ins mensch­li­che Ge­nom sind er­laubt? Wel­che sind wann, un­ter wel­chen Um­stän­den, sitt­lich ge­bo­ten? Wel­che Ein­grif­fe sind un­e­thisch? Ha­ben ge­ne­tisch ge­schä­dig­te Kin­der ein Kla­ge­recht ge­gen­ü­ber den El­tern o­der dem be­han­deln­den Arzt?
Jetzt im nä­her­rücken­den Alt-Sein konn­te ich sein Buch über's Al­tern nicht links lie­gen las­sen. So­bald ich's fer­tig­ge­le­sen ha­be, geht's hier im Text wei­ter...
Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther
Das Buch ist mir beim Aus­räu­men un­se­rer Woh­nung in die Hän­de ge­fal­len. Ich muss es vor 6-7 Jah­ren ge­le­sen ha­ben. Die Au­to­rin er­hielt für die­ses Buch 2013 den In­ge­borg-Bach­mann-Preis. Jetzt ist es lei­der nur noch an­ti­qua­risch oder als ebook er­hält­lich.
Seit 1999 lebt die 1970 in Kiew ge­bo­re­ne Au­to­rin in Ber­lin. In dem Buch be­schreibt sie ei­ne Rei­se zu­rück in den Osten um Spu­ren ih­rer jü­di­schen Groß­mut­ter zu fin­den. — In Kiew, Maut­hau­sen, War­schau und Wien kann die Au­to­rin je­weils Frag­men­te ih­rer Fa­mi­lien­ge­schich­te dem Ver­ges­sen ent­rei­sen.
Ei­ne Schwie­rig­keit ha­be ich mit dem Buch: Das ist der in­halts-as­so­zia­ti­ve Stil. Je nach The­ma springt die Au­to­rin durch die Jahr­zehn­te und von Ge­ne­ra­tion zu Ge­ne­ra­tion. Ich muss mir dann im­mer wie­der die ge­ne­ra­tio­nel­len Zu­sam­men­hän­ge klar­ma­chen, die die Au­to­rin na­tür­lich viel kla­rer vor Au­gen hat. Da bin ich froh, wenn ich in mei­ner ei­ge­nen Fa­mi­lie den Ü­ber­blick be­hal­te. Das ist a­ber ei­ne der Macken mei­nes Ge­hirns. Das spricht in kei­ner Wei­se ge­gen das Buch.
Horst Teltschik: Russisches Roulette Vom Kalten Krieg zum Kalten Frieden
Horst Tel­tschik, der ehe­ma­li­ge au­ßen­po­li­ti­sche Be­ra­ter Hel­mut Kohls und lang­jäh­ri­ge Vor­sit­zen­de der Münch­ner Si­cher­heits­kon­fe­renz hat die­ses Buch im Jah­re 2019 he­raus­ge­bracht. In aus heu­ti­ger Sicht ge­ra­de­zu hell­se­he­ri­scher Art und Wei­se zeigt er in dem Buch die sei­ner Mei­nung nach von der NA­TO und de­ren Staa­ten im Um­gang mit Russ­land ge­mach­ten Feh­ler auf:

Er mo­niert, dass im Jahre 2000 Pu­tins Russ­land noch als be­freun­de­tes Land gel­ten konn­te, trotz der be­reits 1999 er­folg­ten Auf­nah­me von Polen, Tsche­chien und Un­garn in die NA­TO. Als 2004 ne­ben der Slo­wa­kei und Slo­we­nien auch Bul­ga­rien, Ru­mä­nien, Est­land, Lett­land und Li­tau­en der NA­TO bei­tra­ten, war das rus­si­sche (Rest-)Ein­fluss­ge­biet, be­ste­hend aus Weiß­russl­and und der U­kra­i­ne fast voll­stän­dig von NA­TO-Staa­ten ein­ge­kreist. Was das in Russ­land aus­lö­sen könn­te, wur­de im Westen nur am Ran­de wahr­ge­nom­men und be­dacht. Im­mer­hin hat­te die deut­sche Re­gie­rung 2008 ei­nen NA­TO-Bei­tritt der U­kra­i­ne noch ak­tiv ver­hin­dert.

Wenn man be­denkt, dass im Jahre 1991 noch ein NA­TO-Bei­tritt Russ­lands er­wo­gen wor­den war und dass Russ­land bis 1997 ei­nen Sitz im NA­TO-Rat in­ne­ha­tte, dann wird deut­lich, wie we­nig in der Fol­ge auf die Be­fürch­tun­gen Russ­lands ge­ach­tet wur­de und wie we­nig Wert auf ei­ne ver­trau­ens­bil­den­de Po­li­tik ge­gen­ü­ber Russ­land Wert ge­legt wur­de.

Am An­fang der rus­si­schen Kla­ge ü­ber die NA­TO steht im­mer noch Ja­mes Ba­kers be­rühm­te For­mu­lie­rung „Not one inch east­ward“, die am 9. Feb­ru­ar 1990 in ei­nem Tref­fen mit Gor­ba­tschow fiel. Da­mals ver­zich­te­te Gor­ba­tschow al­ler­dings auf ei­ne schrift­li­che Fi­xie­rung die­ser Aus­sa­ge, die von a­me­ri­ka­ni­scher Sei­te als Ver­hand­lungs­po­si­ti­on und von rus­si­scher Sei­te als Zu­si­che­rung auf­ge­fasst wur­de.

All das recht­fer­tigt na­tür­lich nicht den An­griffs­krieg Russ­lands ge­gen­ü­ber der U­kra­i­ne, aber es lohnt sich, das Buch zu le­sen und zu ü­ber­le­gen, was wir in Zu­kunft bes­ser ma­chen kön­nen.
Hans Herbert Grimm: Schlump
Die­ses Buch fiel mir kürz­lich beim Räu­men in die Hän­de. Mei­ne Toch­ter hat­te die­ses Buch ge­le­sen. Es ist ge­wis­ser­ma­ßen die un­be­kann­te­re Va­ri­an­te zu Erich Ma­ria Re­mar­ques An­ti­kriegs­buch »Im Westen nichts Neu­es«. Der Au­tor hat an bei­den Welt­krie­gen als Sol­dat teil­ge­nom­men. Wäh­rend des zwei­ten Welt­kriegs hat­te er das Buch an­geb­lich vor­sichts­hal­ber in der Wand ein­ge­mau­ert, weil er Raz­zien der Na­zis be­fürch­te­te. Schließ­lich ge­hört die­ses Buch auch zu den Bü­chern, die die Na­zis ver­brannt ha­ben.
Das Buch war ini­tial un­ter ei­nem Pseu­do­nym er­schie­nen. Erst nach dem zwei­ten Welt­krieg im Rah­men des Ge­den­kens an die Au­to­rin­nen und Au­to­ren der in der Na­zi­zeit ver­brann­ten Bü­cher lüf­te­te die Schwie­ger­toch­ter des Au­tors das Ge­heim­nis der Au­to­ren­schaft und stell­te klar: Hans Herbert Grimm, ihr Schwie­ger­va­ter, hat­te die­sen Ro­man über den 1. Welt­krieg ge­schrie­ben.
Gerhard Polt: Hundskrüppel Lehrjahre eines Übeltäters
Sel­ten ha­be ich beim Le­sen ei­nes Büch­leins so oft ge­lacht, wie bei die­sen Kind­heits­er­in­ne­run­gen von Ger­hard Polt. Ein Bei­spiel:

»In ei­ner Metz­ge­rei auf­zu­wach­sen ist ein Pri­vi­leg, wel­ches von an­de­ren Kind­kol­le­gen nicht ge­nug be­nei­det wer­den kann. Wenn man im Be­sitz von ech­ten Kuh­au­gen, Schweins­bla­dern, Och­sen­fie­seln oder gar Stier­hörndln ist, dann hat es der lie­be Gott be­son­ders gut mit ei­nem ge­meint. Im Ge­gen­satz zu Brut­stät­ten trost­lo­ser Fad­heit, wie Kin­der­gär­ten et­wa, ist ei­ne Metz­ge­rei ein Event-Pa­ra­dies, und selbst die Hor­ror­fil­me für die Klein­sten sind eine mat­te Sa­che ver­gli­chen mit ei­ner Hin­rich­tung – der Ent­haup­tung ei­nes Go­ckels zum Bei­spiel –, wo man in der ersten Rei­he sitzt, wo das ech­te Blut spritzt und man mit an­se­hen darf, wie der Kopf ab­fällt, wäh­rend der Rest des Go­ckels noch ü­ber den Schup­pen fliegt. ... «

Aus­ge­spro­chen lang­wei­lig war es in Ger­hard Polts Kind­heit an­schei­nend nicht. In dem Sti­le geht es wei­ter ... und wenn Vie­les bei ihm ganz an­ders war als in mei­ner Kind­heit, er ist ja auch 20 Jah­re äl­ter als ich, so er­kann­te ich doch man­ches von dem wie­der, was da in sei­ner Zeit los war.
Burkhard Wehner: Jahrtausendwende Roman über die Demokratie
Die­ses Buch ist mir beim Räu­men in un­se­rer Woh­nung in die Hän­de ge­fal­len. Wie bei so man­chen Schät­zen dort, kann ich mich gar nicht mehr er­in­nern wann und un­ter wel­chen Um­stän­den ich zu die­sem Buch ge­kom­men bin. Es ist ak­tu­ell auch nur noch an­ti­qua­risch er­hält­lich

Der Ro­man wirkt im Jah­re 2023 ziem­lich aus der Zeit ge­fal­len: Er spielt in der schon-PC- aber noch nicht Han­dy-Zeit. Die Pro­ta­go­nis­tin­nen des Ro­mans schrei­ben ih­re Ge­dan­ken selbst auf und be­nut­zen dafür Stift und Pa­pier. Die­se be­schrie­be­nen oder be­druck­ten Pa­pie­re schicken sie dann, mit Hil­fe ei­ner heu­te kaum mehr be­kann­ten In­sti­tu­tion, der »Deut­schen Post« (schon seit 1995 nicht mehr »Bun­des­post« !), den An­de­ren zu. Die­se Leu­te wis­sen al­so noch, was »ein Brief­kas­ten« ist und wo sich ein sol­cher be­fin­det. Dank die­ser Be­för­de­rungs­art sind die­se Pa­pie­re auch nicht so­fort bei der Adres­sa­tin, dem Adres­sa­ten ver­füg­bar.

Aber nun zum Ei­gent­li­chen: Für mich liegt die Stär­ke des Buchs nicht in der Hand­lung. Ein­zig die da­rin ent­hal­te­nen und dis­ku­tier­ten Ide­en ü­ber die De­mo­kra­tie sind in­te­res­sant. Ü­ber 30 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung se­he ich ge­ra­de hier im Osten bei vie­len hier le­ben­den Mit­men­schen im­mer noch mas­si­ve Män­gel im De­mo­kratieverständnis. Der Staat, das sind in der Re­gel im­mer noch »die da oben«, die ma­chen was sie wol­len, wo wir kei­nen Ein­fluss ha­ben. Al­ler­dings ge­be ich mich kei­nen Il­lu­sio­nen hin: Auch im Westen Deutsch­lands ist es lei­der nur ei­ne klei­ne Min­der­heit, die sich po­li­tisch en­ga­giert.
Noch­mal: Der Wert des Bu­ches liegt nicht in sei­nem Un­ter­hal­tungs­wert, son­dern da­rin, dass es an­regt sich ü­ber un­ser de­mo­kra­ti­sches Ge­mein­we­sen wie­der Ge­dan­ken zu ma­chen.
Klaus Kordon: Die Zeit ist kaputt Die Lebensgeschichte des Erich Kästner
Ne­ben vie­len histo­ri­schen Bü­chern hat Klaus Kor­don auch ei­ne Art Bio­gra­phie über Erich Käst­ner ge­schrie­ben. Wäh­rend an­de­re Wer­ke e­her Kästner als Kin­der­buch­au­tor wür­di­gen, zeigt Klaus Kor­don auch die an­de­ren Sei­ten Erich Kästners: Er war ja auch „Sa­ti­ri­ker, Jour­na­list, Ly­ri­ker und Mo­ra­list - ein hell­wa­cher Be­ob­ach­ter sei­ner Zeit” steht kor­rek­ter­weise in der Be­spre­chung zum Buch auf buecher.de.

Erich Kästner war so­gar da­bei als die SA-Leu­te sei­ne Bü­cher ins Feu­er war­fen. Zum Glück wur­de er von de­nen da­mals nicht er­kannt. Ob­wohl er ein kla­rer Geg­ner der Na­zis war, ist er nicht emi­griert. Er hät­te mehr­mals Ge­le­gen­heit da­zu ge­habt. Dass er nicht e­mi­grier­te, wur­de ihm nach dem Krieg auch zum Vor­wurf ge­macht. Sei­ne Kin­der­bü­cher wa­ren in der deut­schen Be­völ­ke­rung sehr be­liebt und wa­ren Best­sel­ler. Das mag ei­ner der Grün­de ge­we­sen sein, wa­rum die Na­zis ihn nicht ein­fach ein­sperr­ten und um­brach­ten. Ge­ret­tet hat ihn fer­ner, dass er seit dem 1. Welt­krieg ein Herz­lei­den hat­te und da­mit für den Dienst als Sol­dat un­taug­lich war. Er war au­ßer­dem ein ge­frag­ter Dreh­buch­au­tor und Fil­me wur­den noch bis zum En­de des Krie­ges ge­dreht. Der Be­völ­ke­rung soll­te da­mit sug­ge­riert wer­den: Trotz des Krie­ges läuft in Deutsch­land al­les nach Plan und wir kön­nen so wei­ter­ma­chen bis zum End­sieg.

Das Kriegs­en­de er­leb­te Käst­ner in Öster­reich als Mit­glied ei­nes Teams, wel­ches den Dreh ei­nes Durch­hal­te­pa­ro­len­films si­mu­lier­te. Da­mit wur­de ef­fek­tiv ver­hin­dert, dass die Crew-Mit­glie­der zur Wehr­macht ein­ge­zo­gen wur­den. Wenn das auf­ge­deckt wor­den wä­re, wä­ren si­cher al­le hin­ge­rich­tet wor­den.
Arthur Koestler: Gladiatoren Leider gibt's das Buch aktuell nur antiquarisch.
1939 er­schien Ar­thur Koest­lers De­büt-Ro­man „Gla­di­a­to­ren”, in dem er die Ge­schich­te vom Auf­stand des Skla­ven Spar­ta­kus ge­gen die rö­mi­sche Skla­ve­rei be­schreibt. Koest­ler er­zählt die Ge­schich­te als ei­ne aus Ge­walt ge­bo­re­ne Re­bel­lion. Es ist die Ab­rech­nung mit ge­walt­tä­ti­gen Re­gi­men, wie dem Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und dem Sta­li­nis­mus.

Was vie­le nicht wis­sen: Bei der heu­te vor­lie­gen­den Aus­ga­be han­delt es sich um ei­ne Rück­ü­ber­setzung aus dem Eng­li­schen. Die deut­schen O­ri­gi­nal­ma­nu­skrip­te sind Ar­thur Koest­ler auf der Flucht vor den Na­zis nach Eng­land ver­lo­ren ge­gan­gen. Wahn­sinn, wenn man sich das ü­ber­legt, was die­se Leu­te durch­ma­chen muss­ten!
Isabel Allende: Das Geisterhaus
I­sa­bell Al­len­des Groß­on­kel, Sal­va­dor Al­len­de, war von 1970 is 1973 Prä­si­dent von Chi­le. Er woll­te ei­ne de­mo­kra­ti­sches an so­zia­lis­ti­schen I­de­a­len o­ri­en­tier­tes Staats­we­sen er­rich­ten. 1973 putsch­ten die Mi­li­tärs um Au­gusto Pi­no­chet und er­rich­te­ten ei­ne lan­ge Jah­re an­dau­ern­de Mi­li­tär­dik­ta­tur.

Isa­bel Al­len­des Erst­lings­werk (bei Suhr­kamp 1984 erst­mals auf deutsch er­schie­nen) wur­de gleich ein Best­sel­ler. Das Buch er­zählt die Ge­schich­te ei­ner groß­bür­ger­li­chen Fa­mi­lie in Chi­le. Es­te­ban Tru­e­ba der Fa­mi­li­en­va­ter ist ein ge­walt­tä­ti­ger Pa­tri­arch. Sei­ne gan­ze Um­ge­bung hat un­ter ihm zu lei­den: Sei­ne Bau­ern be­han­delt er wie Leib­ei­ge­ne. Er un­ter­drückt auch sei­ne ei­ge­ne Fa­mi­lie. Es kommt zum Putsch ge­gen den so­zi­a­lis­ti­schen Staats­prä­si­den­ten, I­sa­bells Groß­on­kel. Un­ter der nach­fol­gen­den Mi­li­tär­dik­ta­tur herr­schen Ter­ror und Ver­fol­gung. Auch die Fa­mi­lie Tru­e­ba ist be­trof­fen. I­sa­bel Al­len­de­ be­schreibt das al­les. Die Au­to­rin stellt a­ber der grau­sa­men Wirk­lich­keit ei­ne ma­gisch an­mu­ten­de Fan­ta­sie­welt ge­gen­ü­ber, die die Düs­ter­nis im­mer wie­der mit Hoff­nungs­schim­mern auf­hellt. Das macht die Lek­tü­re all die­ser Gräu­el er­träg­lich, ja so­gar schön.
Klaus Kordon: 1848 Die Geschichte von Jette und Frieder
1848 ist der erste Teil ei­ner Tri­lo­gie von Klaus Kor­don über die Welt des 19.Jahr­hun­derts in Deutsch­land. Die an­de­ren bei­den Bän­de Fünf Fin­ger hat die Hand und Im Spin­nen­netz sind Teil 2 und 3 der Tri­lo­gie.

An­hand der Lie­bes­ge­schich­te zwi­schen dem 15-jäh­ri­gen Wai­sen­mäd­chen Jet­te und dem 17-jäh­ri­gen Zim­mer­mann Frie­der ge­lingt es Klaus Kordon auf­zu­zei­gen, un­ter wel­chen Ver­hält­nis­sen die Men­schen im vor­re­vo­lu­tio­nä­rem Ber­lin da­mals ihr Le­ben fristen muss­ten. Mög­li­cher­wei­se hät­te es ei­nes sol­chen Bu­ches be­durft, dass ich mich da­mals im Gym­na­sium mehr für das Fach Ge­schich­te in­ter­es­siert hät­te. Vie­le mei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen pfle­gen die An­sicht, dass „die da oben” so­wie­so ma­chen, was sie wol­len und dass das ak­tu­el­le po­li­ti­sche System doch „völ­lig kor­rupt” sei. Sie soll­ten die­ses Buch le­sen, um zu be­grei­fen, was es wirk­lich be­deu­tet in ei­ner Ge­sell­schaft oh­ne Frei­heit der Pres­se, oh­ne un­ab­hän­gi­ge Be­richt­er­stat­tung, ohne un­ab­hän­gi­ge Rich­ter, oh­ne am Ge­setz ori­en­tier­ter Rechts­spre­chung und oh­ne glei­ches Recht für Al­le zu le­ben.

Da­bei bin ich weit da­von ent­fernt zu be­haup­ten, bei uns wä­re al­les in Ord­nung, der Aus­gleich zwi­schen O­ben und Un­ten, zwi­schen Arm und Reich, zwi­schen Alt und Jung wä­re schon ge­lun­gen. Es gibt noch viel zu tun .... A­ber es ist wich­tig, dass wir auch dank­bar se­hen, wie gut es uns doch im Ver­gleich zu den Men­schen in Deutsch­land im Jahr 1848 geht und was für eine Wert es ist, in ei­ner Ge­sell­schaft zu le­ben, wo man sich für sei­ne Mei­nung en­ga­gie­ren kann, darf und soll und wo man sich ge­gen Un­ge­rech­tig­kei­ten häu­fig mit Er­folg zur Wehr set­zen kann. → Pflicht­lek­tü­re!
Jasmin Schreiber: Marianengraben
Auf dem Fried­hof tref­fen sich zu­fäl­lig nachts die jun­ge Pau­la, de­ren ge­lieb­ter jün­ge­rer Bru­der im Al­ter von 10 Jah­ren ver­stor­ben ist, und der al­te Mann, Hel­mut, des­sen Ex-Ehe­frau dort eben­falls bei­ge­setzt ist. Die Not­wen­dig­keit ei­nen Weg zu fin­den mit der Trau­er ad­ä­quat um­zu­ge­hen um wei­ter­le­ben zu kön­nen, schweißt die bei­den un­glei­chen Pro­ta­go­nisten auf ih­rer Rei­se durch fast ganz Deutsch­land zu­sam­men.

Die Rück­sei­te des Bu­ches ziert ein Satz von Sa­scha Lo­bo: »Ei­gent­lich kann man gar kein Buch schrei­ben, das vom Ster­ben han­delt, gleich­zei­tig sehr lustig und tief­trau­rig ist, sich aber an­fühlt wie ein Road­mo­vie.«

Das trifft die Sa­che ge­nau. Man muss oft la­chen, a­ber es ist kein al­ber­nes Ge­wit­zel. Ein Meister­stück!
Hans-Dieter Schütt: Regine Hildebrandt Ich seh doch, was hier los ist
Es gibt in dem Buch ei­ne Pas­sa­ge, in der aus ei­ner Re­de von Gün­ter Grass zi­tiert wird, die er 1992 in den Münch­ner Kam­mer­spie­len ge­hal­ten hat. Er be­schreibt da­rin ei­ne »ver­här­te­te Fremd­heit« zwi­schen Ost- und West­deut­schen. Öst­lich der El­be, sag­te er, »liegt das Kind im Brun­nen und schreit. Sel­ber rein­ge­fal­len und schreit. Was soll die­ses Plär­ren? Da hört man schon nicht mehr hin! — Ein­zig die bran­den­bur­gi­sche So­zi­al­mi­nister­in Re­gi­ne Hil­de­brandt hat Stim­me ge­nug, dem schrei­en­den Kind zu­mindest zeit­wei­lig Ge­hör zu ver­schaf­fen. Sie nennt das an­hal­ten­de Un­recht beim Na­men. Die­se Frau sprengt, so­bald sie auf­tritt, die Matt­schei­be. Sie straft die lan­des­üb­li­che Aus­ge­wo­gen­heit Lü­gen. Ih­re Pe­ne­tranz ist er­fri­schend, ih­re Re­de lei­det nicht un­ter Glät­te.«

Das mit dem »schrei­en­den Kind«, trifft un­ser Ver­ständ­nis der da­ma­li­gen Si­tu­a­tion, das wir im Westen hat­ten: Die Os­sis sind be­reit­wil­ligst der Lü­ge Hel­mut Kohls von den „blü­hen­den Land­schaf­ten” ge­folgt. Das ha­ben sie jetzt da­von! Was soll das He­rum­ge­heu­le, die ha­ben es sich so aus­ge­sucht — auch wenn sie letzt­lich nicht al­le ver­stan­den hat­ten, wo­für sie sich da ent­schie­den hat­ten! Un­kennt­nis schützt in ei­ner De­mo­kra­tie nicht vor der Ver­ant­wor­tung für ei­ge­ne (Fehl-)­Ent­schei­dun­gen!

Ich ha­be das Buch vor Al­lem des­halb ger­ne ge­le­sen, weil es mir noch ein­mal aus der Per­spek­ti­ve ei­ner Frau aus dem Osten, die dem Re­gi­me kri­tisch ge­gen­ü­ber stand, die Er­eig­nis­se der Wen­de­zeit vor Au­gen ge­führt hat, von de­nen wir vie­le schon wie­der ver­ges­sen ha­ben o­der ei­ni­ge gar nicht mit­be­kom­men ha­ben.

Es sei mir er­laubt, noch zwei Sät­ze aus dem Buch zu zi­tie­ren: »Ich will da­für sor­gen, daß uns mor­gen in Bran­den­burg nicht nur Golf­bäl­le um die Oh­ren flie­gen.« – »Ich will mich nicht an ei­ne Re­a­li­tät ge­wöh­nen, bei der Men­schen in Papp­kar­tons auf der Stra­ße lie­gen.« ← Sät­ze, die sich im heu­ti­gen Po­li­tik­be­trieb nie­mand mehr zu sa­gen traut, ob­wohl sie heu­te nicht viel we­ni­ger Ak­tu­a­li­tät ha­ben als da­mals.
Wilhelm Genazino: Tarzan am Main Spaziergänge in der Mitte Deutschlands
Be­ruf­li­che „Zu­fäl­le” ... und plötz­lich hat­te ich En­de des Jahr­tau­sends ei­ne Stel­le als IT-Con­trol­ler in Frank­furt am Main. Das hieß ar­bei­ten in der Me­tro­po­le und woh­nen im Frank­fur­ter Um­land, in der Pro­vinz.

Das Büch­lein ha­be ich nach Jah­ren jetzt ü­ber Weih­nach­ten wie­der ein­mal aus dem Bü­cher­schrank ge­zo­gen. Es ist ei­ne li­te­ra­ri­sche Be­trach­tung der Span­nung zwi­schen Pro­vinz und Me­tro­po­le, zwi­schen ver­trau­ter Um­ge­bung und Welt­of­fen­heit. Frank­furt steht für mich für Bei­des und schö­ner als in die­sem Büch­lein fand ich's nir­gends be­schrie­ben.
Eduard von Keyserling: Wellen
Auf dem Ex­em­plar, wel­ches ich von der Stadt­bü­che­rei aus­ge­lie­hen ha­be, steht hin­ten ein Zi­tat von Jens Malte Fischer „Key­ser­ling ist der wahr­schein­lich un­be­kann­teste große deut­sche Er­zäh­ler des Jahr­hun­derts.” (← ge­meint ist da das 20. Jahr­hun­dert). In An­be­tracht des­sen, dass sein Au­tor kaum be­kannt ist, scheint es auch das Ro­man­werk mit den un­ter­schied­lichsten und ver­schie­den­ar­tig­sten Aus­ga­ben zu sein.

Wenn man sich in den 1911 erst­mals er­schie­ne­nen Ro­man ver­tieft, denkt man zu­erst, „Was für ein ober­fläch­li­ches ad­lig-bür­ger­li­ches Ge­quat­sche!”. Liest man wei­ter, dann wird ei­ner­seits das gan­ze Elend ei­ner Ge­sell­schaft of­fen­bar, in der die Hel­din Do­ra­li­ce, auf­grund ih­rer Tren­nung von ih­rem Ehe­mann ei­gent­lich als nicht mehr ge­sell­schafts­fä­hig gilt. An­de­rer­seits ge­lingt es von Key­ser­ling meister­haft ganz un­lang­wei­lig, das re­sul­tie­ren­de Be­zie­hungs­ge­flecht auf­zu­zei­gen. Am Schluss fragt man sich so­gar, ob die Per­so­nen des Ro­mans trotz ihres "ein­ge­mau­ert Seins" in ge­sell­schaft­li­chen Kon­ven­tio­nen nicht doch frei­er sind, als wir, da für uns doch schein­bar kei­ne ge­sell­schaft­li­chen ein­en­gen­den Kon­ven­tio­nen un­se­ren All­tag re­geln ... . Dass die­se Zwei­fel auf­kom­men, mag auf­zei­gen, wie meister­lich der Au­tor die­se uns frem­de Ge­sell­schaft schil­dert. Ich zäh­le das Buch je­den­falls ab so­fort zu den gro­ßen Wer­ken, die man ge­le­sen ha­ben muss.
Paul Maar: Wie alles kam Roman meiner Kindheit
Paul Maar, der Sams-Er­fin­der, schild­ert in dem Buch sei­ne Kind­heit in ei­nem Ort bei Schwein­furt. Es geht da­rum, wie er sei­ne Mut­ter ver­lor, den aus dem Krieg heim­keh­ren­den Va­ter nicht er­kannt hat, was of­fen­bar zu ei­ner fort­dau­ernd schwie­ri­gen Va­ter-Sohn-Be­zie­hung bei­ge­tra­gen hat. Das Buch fas­zi­niert we­gen des ge­schil­der­ten Muts und der Ener­gie, mit der er dem Le­ben trotz wid­ri­ger Um­stände das Beste ab­ge­trotzt hat.
Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters
Christi­a­ne Hoff­mann schil­dert zu Be­ginn des Bu­ches, wie in ih­rer Kind­heit die Er­wach­se­nen ü­ber die ver­lo­re­ne Hei­mat, Ro­sen­thal in Schle­si­en, ge­re­det ha­ben. Das er­in­nert mich an die Er­zäh­lun­gen mei­nes On­kels Al­fred, der aus Kö­nigs­berg stamm­te. Zeit sei­nes Le­bens gab es prak­tisch kei­ne Be­geg­nung mit ihm, wäh­rend der nicht der Ver­lust sei­ner Hei­mat zur Spra­che kam und was „der Rus­se” al­les ver­bro­chen hat­te.
Pa­ra­doxer­wei­se hel­fen mir die­se Kind­heits­er­in­ne­run­gen im Um­gang mit mei­nen Pa­ti­en­ten, die in ih­rer Kind­heit ein ähn­li­ches Flucht­schick­sal er­lei­den muss­ten.

Der ei­gent­li­che Wert des Bu­ches liegt aber nicht nur da­rin, dass Christi­a­ne Hoff­mann ih­ren Weg be­schreibt. Noch in­te­res­san­ter sind die Be­geg­nun­gen mit den Men­schen, die heu­te dort vor Ort woh­nen. Zu Be­ginn des We­ges sind das Po­len, de­ren Vor­fah­ren ih­rer­seits aus Ga­li­zien, aus der heu­ti­gen U­kra­i­ne ver­trie­ben wur­den. Es wird nir­gends die Schuld der Deut­schen am zwei­ten Welt­krieg in ir­gend­ei­ner Wei­se be­schö­nigt, aber man be­kommt durch das Buch doch ein sehr dif­fe­ren­zier­tes Bild ü­ber die Be­find­lich­kei­ten der dor­ti­gen Be­völ­ke­rung. Man muss sich schon wun­dern ... . Wäh­rend im Süd­westen Deutsch­lands vie­le Fran­zö­sisch ge­lernt ha­ben und sich heu­te auf Fran­zö­sisch gut ver­stän­di­gen kön­nen, ist der­glei­chen in den öst­li­chen Ge­bie­ten Deutsch­lands gar nicht der Fall ... Nie­mand lernt Pol­nisch. ... Na ja, in Bayern lernt auch nie­mand Tsche­chisch, e­her La­tein....
Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Der po­li­tisch links ste­hen­de Bernd Ste­ge­mann hat einst Phi­lo­so­phie, Ger­ma­nistik und Er­zie­hungs­wis­sen­schaf­ten an der FU Ber­lin und an der Uni­ver­si­tät Ham­burg stu­diert. Er ist heu­te tä­tig als Dra­ma­turg und ist auch Pro­fes­sor an der Hoch­schu­le für Schau­spiel­kunst Ernst Busch in ber­lin. Er ist für die­ses Buch von al­len Sei­ten mas­siv an­ge­grif­fen wor­den. Von den Lin­ken, weil er de­ren Dis­kurs­ver­hal­ten kri­ti­siert hat, ... von den wirt­schafts­freund­li­chen Krei­sen, weil er die The­se ver­tritt (die ich üb­ri­gens nicht tei­le), dass die ak­tu­el­le Dis­kurs­si­tu­a­tion eine mit Ab­sicht her­bei­ge­führ­te oder be­günstig­te Fol­ge un­se­res neo­li­be­ra­len Wirt­schaf­tens sei, ... von den Kon­ser­va­ti­ven und zu­gleich von den So­zial­wis­sen­schaft­lern, weil er sich ge­wis­ser­ma­ßen als „Fach­frem­der” an­maßt ei­ne so­zio­lo­gi­sche Ana­ly­se un­se­rer ak­tu­el­len ge­sell­schaft­li­chen Si­tu­a­tion zu ver­öf­fent­li­chen.

Um die­sen Shit-Storm be­nei­de ich ihn nicht, aber ...

So rich­tig konn­te ich bis­her nicht ver­or­ten, wo­ran es liegt, dass ich un­se­re bun­des­re­pub­li­ka­ni­sche Ge­sell­schaft im­mer de­bat­tier­un­fä­hi­ger er­le­be. Da hat mir die­ses Buch die Au­gen ge­öff­net. Selbst auf die Ge­fahr hin, dass das die Sa­che jetzt sehr ver­kürzt er­schei­nen lässt, möch­te ich aus dem Buch zi­tie­ren:
»Gren­zen­lo­sig­keit, Di­ver­si­tät und Glo­ba­li­sie­rung wer­den nicht mehr als kon­kre­te Macht­ver­hält­nis­se be­schrie­ben, son­dern als all­ge­mei­ne Wer­te für gut er­klärt. So ist je­de Kri­tik da­ran un­mög­lich, da der Kri­ti­sie­ren­de sich auf die mo­ra­lisch bö­se Sei­te stellt. Und schließ­lich führt der neo­li­be­ra­le Um­bau da­zu, dass in der Öf­fent­lich­keit nicht mehr Wi­der­sprü­che, die al­le be­tref­fen aus­ge­tra­gen wer­den, son­dern je­der als pri­va­tes In­di­vi­du­um dort auf­tritt. ... Ge­reizt­heit und Ge­kränkt­heit sind die bei­den Grund­e­mo­tio­nen spät­mo­der­ner Öf­fent­lich­keit.«

Im Prin­zip be­haup­tet er (so wie im o­bi­gen Zi­tat zum Neo­li­be­ra­lis­mus auf­ge­zeigt), dass kri­ti­sche Stim­men, Mei­nun­gen und Hand­lun­gen in un­se­rer ak­tu­el­len Dis­kurs­si­tu­a­tion eher erst ein­mal dif­fa­miert und mo­ra­lisch nie­der­ge­macht statt ge­hört und wahr­ge­nom­men wer­den.

Schönstes ak­tu­el­les Bei­spiel ist für mich der Ver­such die Stra­ßen­kle­ber der Last-Ge­ne­ra­tion mit den Ter­ro­risten der RAF mo­ra­lisch und recht­lich auf ei­ne Stu­fe zu set­zen. . „Was ist da ge­recht­fer­tigt?” „Wenn die Schwei­ne­bau­ern die Stra­ße blockie­ren, dann gibt es Po­li­ti­ker, die da noch hin­fah­ren und ih­re So­li­da­ri­tät mit den Schwei­ne­bau­ern be­kun­den!” „Nö­ti­gung bleibt Nö­ti­gung!” „Die Wo­chen­zei­tung die Zeit hat ex­tra ei­nen gan­zen Ab­schnitt mit der Dis­kus­sion ge­füllt, in­wie­fern blockier­te Au­to­fah­rer be­rech­tigt sind die Blockie­rer von der Stra­ße zu ent­fer­nen!” Was war ge­ra­de das The­ma? Stra­ßen­blocka­de, RAF, Not­wehr, Kli­ma, Kri­se. Wer jetzt noch nicht die Schnaue voll hat von der „Diskussions . . . ” .

Die­se Me­cha­nis­men be­schreibt Bernd Ste­ge­mann als öf­fent­lich­keits­feind­lich und er macht sich die Mü­he, auch Die­je­ni­gen zu be­nen­nen, die je­weils ih­ren Bei­trag da­zu leisten, dass das so bleibt. Nicht ganz ein­fach zu lesen, aber auf­schluss­reich und wert zu dis­ku­tie­ren!
Jan Guillou: Die Brückenbauer / Brückenbauer Bd.1
Ein fas­zi­nie­ren­des Buch über drei Fischer­jun­gen aus Nor­we­gen, die zu Halb­wai­sen wer­den. Dank ei­nes Sti­pen­di­ums kön­nen sie stu­die­ren und wer­den die besten Brücken­bau­er des Lan­des.
Lars Jaeger: Emmy Noether Ihr steiniger Weg an die Weltspitze der Mathematik
Bio­gra­phien le­se ich ei­gentl­ich kaum, das ist nicht so mein Ding. Die­se Bio­gra­phie ü­ber Emmy Noether ha­be ich aber fast in ei­nem Rutsch durch­ge­le­sen. Es war nicht der un­glaub­li­che Män­ner­dün­kel oder der kon­se­quen­t dis­kri­mi­nie­ren­de Um­gang, dem Emmy Noether zeit­le­bens aus­ge­setzt war, die mich fas­zi­nier­ten, nein. — Emmy Noether hat die ab­strak­testen, am we­nig­sten an­schau­li­chen The­men der Ma­the­ma­tik bahn­bre­chend wei­ter­ent­wickelt. So ver­half sie bei­spiels­wei­se Al­bert Ein­stein da­zu, das ma­the­ma­ti­sche Grund­ge­rüst zu sei­ner all­ge­mei­nen Re­la­ti­vi­täts­the­o­rie wi­der­spruchs­frei zu for­mu­lie­ren. Sie war in re­gem Aus­tausch mit den füh­ren­den Ma­the­ma­ti­kern und Phy­si­kern ih­rer Zeit und die schätz­ten ih­re Ar­beit.
Lars Jaeger ist es ge­lun­gen, die­se The­men auch für Leute mit ma­the­ma­ti­scher Halb­bil­dung, wie mich, an­schau­lich (nein, das ist un­mög­lich) ver­ständ­lich dar­zu­stel­len. De­nen, die zu­min­dest ei­nen Mathe-Leistungs­kurs er­folg­reich be­sucht ha­ben, kann ich das Buch des­halb un­ein­ge­schränkt em­pfeh­len.
Christoph Peters: Dorfroman
Wir be­fin­den uns in den 70er-Jah­ren in Hül­ken­donck, ei­nem klei­nen Dorf am Nie­der­rhein, na­he Kal­kar, wo der schnel­le Brü­ter ge­baut wer­den soll, wo für die ka­tho­lisch ge­präg­te Be­völ­ke­rung der sonn­täg­li­che Kirch­gang Pflicht ist und wo nur der (Farb-)Fern­se­her die wei­te Welt ins Haus bringt. Das und, wie das Pro­jekt „Schnel­ler Brü­ter” die Ge­sell­schaft spal­tet, schil­dert der Dorf­ro­man.

Wenn mich ich heu­te auf­re­ge und es be­äng­sti­gend fin­de, wie Zu­kunfts­fra­gen zu Ver­wer­fung­en in un­se­rer Ge­sell­schaft füh­ren, so führt mir die­ses Buch vor Au­gen, dass es sol­che Ver­wer­fun­gen schon frü­her gab. Of­fen­bar ha­be ich sie da­mals nicht als so be­droh­lich wahr­ge­nom­men.
Ob­wohl ich nie­mals ein 100-pro­zen­ti­ger Atom­kraft­geg­ner war, bin ich heu­te froh, dass wir in Deutsch­land den Aus­stieg aus der En­er­gie­er­zeu­gung mit­tels Atom­kraft fast ge­schafft ha­ben.
Tat­säch­lich macht mir das Buch in­di­rekt, ohne dass das Ab­sicht des Au­tors ist, Mut, dass wir es heu­te auch wie­der schaf­fen uns den Zu­kunfts­fra­gen, wie
  • Klimawandel oder
  • Verringern Spaltung zwischen Arm und Reich oder
  • Pflege im Alter zu stellen
zu stel­len.
Marietta Slomka: Nachts im Kanzleramt Alles, was man schon immer über Politik wissen wollte
Ich bin er­staunt und neu­gie­rig wo sich Ma­ri­et­ta Slom­ka nachts so rumt­reibt . . .
Wo – er­fah­ren Sie, wenn ich das Buch ge­le­sen habe — Na ja, 'mal seh­en!

Nach­dem ich es ge­le­sen hat­te, musste ich lei­der fest­stel­len: Für mich ist das Buch ein to­ta­ler Fehl­kauf – nicht des­halb, weil ich im­mer noch nicht weiß, was nachts im Kanz­ler­amt pas­siert oder wo sich Ma­ri­et­ta Slom­ka nachts so rumt­reibt . . . Das Buch ist, ab­ge­se­hen vom Ti­tel, das beste Lehr­buch über Po­li­tik und De­mo­kra­tie, wel­ches ich je in den Hän­den ge­hal­ten habe. Für ei­nen po­li­tisch In­te­res­sier­ten, wie mich, bringt es aber lei­der nichts Neu­es. Aber ich wer­de es mei­ner Toch­ter ge­ben. Ich bin neu­gie­rig, was die da­zu sagt.
Katrin Eigendorf: Putins Krieg Wie die Menschen in der Ukraine für unsere Freiheit kämpfen
Ini­tial fand ich den Un­ter­ti­tel nicht an­ge­bracht. Ich dach­te, wie an­ma­ßend das zu be­haup­ten. Je län­ger man in dem Buch liest, desto klar­er wird es...
... Wenn Pu­tin ge­winn­en wür­de, wä­re auch un­se­re Frei­heit be­droht. Auch wenn da­rin furcht­ba­re Sa­chen ge­schil­dert wer­den – Al­le soll­ten's le­sen.
Timothy Snyder: Bloodlands Europa zwischen Hitler und Stalin 1933-1945
Dieses Buch hat mir ein gu­ter Freund im Ur­laub zum Les­en ge­ge­ben. Ich hab's erst ein­mal bei­sei­te ge­legt. Aber wenn man die heu­ti­ge Si­tu­a­tion, ge­ra­de auch die in der Ukra­ine, bes­ser ver­ste­hen will, muss man's le­sen. Leider kei­ne schö­ne Lek­tü­re!
Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder
Das Buch zeigt auf, wie auch un­se­re Ge­ne­ra­tion in ih­ren Hal­tun­gen und Ge­wohn­hei­ten noch vom zwei­ten Welt­krieg gep­rägt ist — und zwar auf ganz un­ter­schied­liche Art und Wei­se. Al­le Ba­by-Boo­mer soll­ten's le­sen.
Juli Zeh: Über Menschen
Juli Zeh: Unterleuten

In ge­wis­ser Wei­se ist der Ro­man „Über Men­schen” die Fort­setzung von „Unterleuten”. Das Buch Über Men­schen be­schreibt, was pas­siert, als ei­ne Ber­li­ner Groß­städte­rin in Co­ro­na-Zei­ten vor ih­rem in Kli­ma­fra­gen sich im­mer i­de­o­lo­gi­scher ge­bär­den­den Part­ner in die Bran­den­bur­gi­sche Pro­vinz flieht. Da ho­len sie Fra­gen ein wie: Wel­che Leu­te sind für mich wich­tig für den all­täg­li­chen Um­gang? Wie mit dem Nach­barn um­ge­hen, der von sich selbst sagt, er sei der Dorf-Na­zi?
De­nis Scheck sag­te dazu: »Ein Buch, das ei­nem die Au­gen öff­net für un­se­re bun­des­re­pub­li­ka­ni­sche Wirk­lich­keit.« Die ei­gent­li­che Fra­ge ist aber, wel­che „Wirk”–lich­keit wir zu­las­sen wol­len bzw. zu­las­sen kön­nen.

Zum Roman Unterleuten ist auf buecher.de zu le­sen:
» Un­ter­leu­ten ist ein Ort im Bun­des­land Bran­den­burg, an dem Juli Zeh in ihrer Phan­ta­sie rund zehn Jah­re ver­bracht hat. Sie kennt die­sen Ort wie kaum ein an­de­rer. Sie kennt alle Ein­woh­ner, je­de Haus­ecke, je­den Stein.
Der Ge­sell­schafts­ro­man Un­ter­leu­ten stellt sich dem „Kampf der Kul­tu­ren“. Gro­ße kul­tu­rel­le Un­ter­schie­de gibt es be­kann­ter­ma­ßen zwi­schen Ost und West, zwi­schen Mor­gen­land und A­bend­land, zwi­schen Is­lam und Christen­tum. Doch Ju­li Zeh stellt in ih­rem Buch fest, die Un­ter­schie­de auf der gan­zen Welt be­ste­hen vor al­lem zwi­schen Stadt und Land. So zeigt sie die Dif­fe­ren­zen zwi­schen ei­nem Ber­li­ner und ei­nem Ein­woh­ner des klei­nen Ört­chens Un­ter­leu­ten auf. «
Matthias Kehle, Chris I. Soppa: Das gibt es nur am Bodensee
Das Buch habe ich meinem Vater geschenkt. Keine große Literatur, aber wenn man das Büchlein durch hat, dann weiß man über viele Schätze und Sehenswürdigkeiten am Bodensee Bescheid und hat zugleich noch etwas über die lokale Geschichte erfahren. Ich weiß nicht, warum das Buch gerade verramscht wird.
Maja Göpel: Wir können auch anders Aufbruch in die Welt von Morgen
Ins­ge­samt 57 Cent Kosten er­spa­re ich der Ge­sell­schaft (nicht mir selbst) für je­den Ki­lo­me­ter, den ich mit dem Fahr­rad statt mit dem Au­to zu­rück­le­ge. So ha­be ich das noch nie ge­se­hen.
In dem Buch geht es un­ter An­de­rem da­rum, dass wir bei den ak­tu­el­len Dis­kus­sio­nen nicht nur da­rauf achten dür­fen, was uns das kostet, wenn wir „Das oder Das” ver­än­dern. Nur wenn wir auch da­rauf schau­en, was es uns kostet, wenn wir „Das oder Das” nicht ver­än­dern, stimmt die Kal­ku­la­tion.
Das Buch zeigt auf, wie uns das syste­mi­sche Den­ken ab­geht und wie uns das syste­mi­sche Den­ken wei­ter­brin­gen kann, wenn es um die ak­tu­el­len Be­dro­hun­gen, wie Erd­er­wär­mung oder so­zi­a­le Un­ge­rech­tig­keit oder Wie­der­er­ken­nen der (Selbst-)Wirk­sam­keit der ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen geht.
Ma­ja Gö­pel er­klärt wun­der­bar, wie es pas­sie­ren konn­te, dass ei­ne schwe­di­sche Schul­schwän­ze­rin die I­ko­ne der neu­en Kli­ma­be­we­gung wur­de. Nach dem Le­sen des Bu­ches ha­ben wir ei­gent­lich kei­ne Aus­re­de mehr und kön­nen nicht sa­gen, wir sei­en zu un­be­deu­tend, zu un­fä­hig o­der zu un­be­kannt, um et­was ver­än­dern zu kön­nen. Das Buch raubt mir die Recht­fer­ti­gung, mich mit den Wor­ten „das wird ja eh nicht klap­pen” zu­rück­­leh­nen zu kön­nen, um mich „Not-ge­drun­gen” der selbst­ge­rech­ten Un­tä­tig­keit hin­zu­ge­ben. Bes­ser nicht le­sen!
Sue Monk Kidd: Die Bienenhüterin
Die­ses Buch ha­be ich in der Fe­rien­woh­nung im Ur­laub ent­deckt. Ein sehr US-a­me­ri­ka­ni­sches Buch. Es war in den USA üb­er lan­ge Zeit Nr 1.-Best­sel­ler. Es geht um ein Schuss­waf­fen­un­glück, um ei­nen ge­walt­tä­ti­gen Va­ter, um aus ras­sisti­schen Grün­den miss­han­deln­de Po­li­zisten und um 3 schwar­ze Schwestern (Ohh Nein! Ich muss ja schrei­ben: „3 Schwestern, people of color”!), 3 Im­ke­rin­nen, wel­che dem Mäd­chen und sei­ner Freun­din Liebe ent­ge­gen­brin­gen und Ge­bor­gen­heit ver­schaf­fen.
Es ist in zwei­ter Li­nie ein Ro­man ü­ber das Ver­hält­nis von schwar­zer und wei­ßer Be­völ­ke­rung in den Süd­staa­ten der USA und es sind hier die Schwar­zen, die ei­nem wei­ßen pu­ber­tie­ren­den Mäd­chen hel­fen er­wach­sen zu wer­den und ih­re trau­ma­ti­sche Fa­mi­li­en­ge­schich­te zu ü­ber­win­den.
Sorry, wenn ich mich hier über Gen­der- und Min­der­hei­ten-ge­rech­te Spra­che lustig zu ma­chen schei­ne. Ich bin da et­was em­pfind­lich, aus dem Wis­sen heraus, dass die Ver­wen­dung „kor­rek­ter Spra­che” noch lan­ge nicht be­deu­tet, dass die Au­tor(inn)en sol­cher Tex­te auch wirk­lich ei­ne ad­ä­qua­te in­ne­re Hal­tung ha­ben. Be­son­ders falsch fin­de ich, wenn man al­le Spu­ren ei­ner aus heu­ti­ger Sicht „nicht kor­rek­ter Spra­che” zu til­gen ver­sucht. Da­durch geht das Wis­sen ver­lo­ren, wie frü­her geredet wur­de und der Fort­schritt im Den­ken wird un­sicht­ba­rer. Wenn al­so, wie ich im Ur­laub in Kon­stanz be­merkt ha­be, ei­ne Moh­ren-A­po­the­ke nicht mehr Moh­ren-A­po­the­ke hei­ßen darf... Für mich ist Mohr zu­nächst ein­mal ei­ne histo­ri­sche Be­nen­nung ei­nes Men­schen mit schwar­zer Haut­far­be und kei­ne Herab­wür­di­gung. An­ders wür­de ich es se­hen, wenn die Apo­the­ke „Ne­ger-Apo­the­ke” hei­ßen wür­de.
Eva-Maria Hagen: Eva und der Wolf Buchtitelbild © www.eva-maria-hagen.de
Aus An­lass des To­des von Eva-Maria Ha­gen ha­be ich mir die­ses Buch aus der Stadt­bü­che­rei ge­holt, wel­ches ich nur em­pfeh­len kann. Wenn man et­was ü­ber Wolf Bier­mann er­fah­ren will, dann dort. Leider gibt's das Buch nur an­ti­qua­risch. A­ber viel­leicht wird es ja jetzt noch­mal neu auf­ge­legt.
Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung
Ich er­in­ne­re mich noch, wie uns im Gym­na­sium die Phi­lo­so­phie Rousseaus „na­he­ge­bracht” wurde: Es wur­de e­her ab­fäl­lig von der so ge­nann­ten »Rousseau'schen I­dyl­le« ge­spro­chen und Rousseau un­ter­stellt, er ha­be die Kin­der o­hne Er­zie­hung und Kul­tur­tech­ni­ken, »nur in der Na­tur« auf­wach­sen las­sen wol­len. Was da­bei he­raus­kom­me, wur­de uns vor Au­gen ge­führt, kön­ne nur ei­ne Kaspar Hauser-ähn­li­che Kre­a­tur sein. Da­mit war für uns die Phi­lo­so­phie Rousseaus ein für al­le Mal als »Quatsch« dis­kre­di­tiert.

Erst beim Le­sen die­ses Bu­ches von Su­san Nei­mann ha­be ich ver­stan­den, was für ein Un­sinn uns da er­zählt wur­de: In sei­nem Ro­man Emile schil­dert Rousseau Me­tho­den um Kin­der an das Le­ben he­ran­zu­füh­ren, die heu­te als mo­dern gel­ten: In­ter­es­se wecken, er­leb­nis­ori­en­tier­te Pä­da­go­gik (Stern­be­ob­ach­tung im Wald, O­ri­en­tie­rung an­hand der Ster­ne um den Nach-Hause-Weg zu fin­den).
Letzt­lich be­schreibt Su­san Nei­mann Er­wach­sen-Wer­den als Weg aus der Un­mün­dig­keit - ganz im Kant'schen Sin­ne. — Macht Spaß zu le­sen!
Sabine Ebert: Die zerbrochene Feder
Sa­bi­ne E­bert hat ei­nen gu­ten Ruf als Au­to­rin gut re­cher­chier­ter histo­ri­scher Ro­ma­ne. Es geht um die Zeit ab En­de 1815: Na­po­le­on ist be­siegt und es ist die Zeit der Restau­ra­tion. Nicht nur die al­ten Herr­scher er­hal­ten ih­re Macht zu­rück, nein auch Bür­ger­rech­te und ge­sell­schaft­li­che Fort­schrit­te, die die Herr­schaft Na­po­le­ons eben auch mit sich ge­bracht ha­ben, wer­den wie­der rück­gän­gig gem­acht. Es geht um das Schick­sal ei­ner jun­gen Wit­we, de­ren Schil­de­run­gen des Kriegs­leids nicht nur bei den wie­der ein­ge­setz­ten Zen­so­ren son­dern auch an höchster Stel­le miss­fällt, wes­halb sie kur­zer­hand aus Preus­sen ver­bannt wird. Da­bei hat sie noch das Glück bei ih­rem On­kel im säch­si­schen Frei­berg auf­ge­nom­men zu wer­den. A­ber ge­ra­de auch in Sach­sen wur­de das Rad zu­rück­ge­dreht: Auch hier gibt es ver­schärf­te Zen­sur. Kein Ge­dan­ke an Pres­se­frei­heit. Es kommt so­gar zu Bü­cher­ver­bren­nun­gen. At­ten­ta­te wer­den als Hel­den­ta­ten ge­fei­ert.
Wie im­mer in Sa­bi­ne E­berts Bü­chern wird ei­nem die histo­ri­sche Si­tu­a­tion plastisch vor Au­gen ge­führt und man kann sich vor­stel­len, wie sich die Men­schen da­mals ge­fühlt ha­ben muss­ten. Am En­de schaf­fen es die Hel­d(inn)en der Bü­cher Sa­bi­ne E­berts a­ber aus ih­rem Le­ben et­was zu ma­chen. - Tol­les Buch!

Sabine Eberts 5-bändige Buchreihe über die Barbarossa-Ära und Sabine Eberts 5-bändige Hebammen-Buchreihe ha­be ich vor Jah­ren je­weils kom­plett ge­le­sen. Es lohnt sich!
Christoph Hein:Trutz
Das Buch er­zählt die Ge­schich­te zwei­er Fa­mi­lien ü­ber 2 Ge­ne­ra­tio­nen. Ei­ne da­von ist die Fa­mi­lie „Trutz”. Va­ter Trutz ist Buch­au­tor und Jour­na­list. Als re­li­gi­ö­ser So­zi­a­list traf er sich in den Drei­ßi­ger­jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts je­de Wo­che mit Ge­sin­nungs­ge­nos­s(inn)en in ei­nem Ge­sprächs­kreis, der von der The­o­lo­gie des in Frank­furt le­ben­den und leh­ren­den Paul Tillich ein deut­scher und spä­ter US-a­me­ri­ka­ni­scher pro­tes­tan­ti­scher Theo­lo­ge in­spi­riert war. In dem Kreis lern­te er auch sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin und spä­te­re E­he­frau ken­nen.
Nach der Macht­er­grei­fung Hit­lers ver­lor er sei­ne Stel­le bei der Zei­tung und be­kam auch als frei­er Jour­na­list kei­ne Auf­trä­ge mehr. Schlim­mer noch: Der In­ha­ber des Ver­lags, der sei­ne Bü­cher he­raus­ge­ge­ben hat­te, mach­te ihn für den I­ma­ge-Scha­den ver­ant­wort­lich, der dem Ver­lag da­raus ent­stan­den sei, als die Na­tio­nal­so­zia­listen Trutz' Bü­cher auf die schwar­ze Liste ge­setzt hat­ten. Da­durch wur­den die Bü­cher un­ver­käuf­lich.
Aus dem Kreis der re­li­gi­ö­sen So­zi­a­listen er­hielt nur der spi­ri­tus rec­tor Paul Til­lich selbst das er­hoff­te Vi­sum für ei­ne Aus­rei­se in die USA. In letz­ter Se­kun­de ge­lang es Trutz und sei­ner Le­bens­ge­fähr­tin, dank der Hil­fe ei­ner in der sow­je­ti­schen Bot­schaft tä­ti­gen Freun­din, ein Vi­sum für die Sow­jet­u­ni­on zu be­kom­men und nach Mos­kau zu flie­hen.
In Mos­kau hat­te er kei­ne Chan­ce in sei­nem al­ten Be­ruf zu ar­bei­ten. Er muss­te froh sein, ei­ne Stel­le als Bau­ar­bei­ter in der in­ter­na­tio­na­len Bri­ga­de „Karl Marx” zu be­kom­men. In­tern wur­de so ein Mit­glied der Bri­ga­de als дермовщик be­zeich­net, was sich, wenn man höf­lich ist, mit „Klo­putzer” ü­ber­set­zen lässt. Da ging es sei­ner E­he­frau in ih­rer Stel­le in der Scho­ko­la­den­fa­brik schon bes­ser. Das Paar pfleg­te Freund­schaft mit der Fa­mi­lie ei­nes Pro­fes­sors, der mit sei­nem Sohn und dem Sohn der Fa­mi­lie Trutz Ge­dächt­nis­ü­bun­gen machte.
Nach ei­ni­gen glück­li­chen Jah­ren trifft die bei­den Familien das gan­ze Aus­maß der Re­pres­sion, wel­ches in der da­ma­li­gen Sow­jet­u­ni­on herrsch­te. Es kommt zur Ver­ban­nung nach Si­bi­ri­en. Erst Jahr­zehn­te spä­ter tref­fen sich die Söh­ne bei­der Fa­mi­lien in Deutsch­land wie­der.

Wer bis da­hin noch nicht ab­ge­schreckt ist, dem em­pfeh­le ich dies­es Buch. Die (Nicht-)Re­ak­ti­o­nen der rus­si­schen Zi­vil­ge­sell­schaft auf die ak­tu­el­len Er­eig­nis­se ver­steht man bes­ser, wenn man sich mit Hil­fe die­ses Bu­ches klar macht, dass es in den ver­gan­ge­nen 100 Jah­ren nur ei­ne kur­ze Pha­se der gab, in der in Russ­land frei­e Mei­nungs­äu­ße­rung oh­ne ne­ga­ti­ve Kon­se­quen­zen mög­lich war.
Steffen Kopetzky: Monschau
West­deutsch­land, die Eif­fel zu Be­ginn der 60er-Jah­re. In dem Ort Mon­schau bre­chen die Po­cken aus. Kei­ne Pan­de­mie, a­ber doch ei­ne E­pi­de­mie mit al­len be­kann­ten Schi­ka­nen: Qua­ran­tä­ne für gan­ze Fa­mi­lien, Ü­ber­for­de­rung der lo­ka­len Me­di­zin­in­fra­struk­tur (Ein Kran­ken­haus muss ge­sperrt wer­den und kann ke­ine Kran­ken mehr auf­neh­men). Es gibt den­noch den teils hilf­lo­sen Ver­such das „nor­ma­le Le­ben” weit­ge­hend, wie bis­her, auf­recht zu er­hal­ten. Aus Düs­sel­dorf kommt ein Pro­fes­sor samt As­sis­tent, der den Kri­sen­stab lei­tet.
Tat­säch­lich be­ruht das Buch auf ei­nem re­a­len Er­eig­nis, ei­ner Pocken-Epi­de­mie An­fang der 60er-Jah­re in der Eif­fel. Ü­ber­ra­schend ak­tu­ell ... und doch wie­der nicht, denn die ge­sell­schaft­li­chen Re­geln ha­ben sich seit den 60er-Jah­ren doch ver­än­dert...
Christoph Hein: Gegenlauschangriff Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege
Christoph Hein: Guldenberg
Christoph Hein: Landnahme
„Ge­gen­lausch­an­griff” bie­tet ei­nen tie­fen Ein­blick in das Le­ben ei­nes Li­te­ra­ten in den letz­ten 20 Jah­ren der DDR und den ersten Jah­ren des wie­der­ver­ei­nig­ten Deutsch­land. Die Aus­sa­ge des Klap­pen­texts, dass dies Christoph Heins per­sön­lichstes Buch sei, kann ich nur be­stä­ti­gen.
Dass die „Wie­der­ver­ei­ni­gung” der bei­den deut­schen Staa­ten, in vie­ler­lei Hin­sicht letzt­lich ein An­schluss der ehe­ma­li­gen DDR an die Bun­des­re­pub­lik war, das ist in­zwi­schen hin­läng­lich be­kannt. A­ber neu wa­ren für mich die De­tails, die Christoph Hein schil­dert. Für vie­le Kul­tur­schaf­fen­de brach­te das En­de der DDR e­ben nicht die er­hoff­te neu­e Frei­heit und die er­hoff­ten neu­en Mög­lich­kei­ten. Im Ge­gen­teil: Sie sa­hen sich plötz­lich ei­nem Kon­kur­renz­kampf aus­ge­setzt, in dem sie, die Neu­en, die Nicht-E­tab­lier­ten wa­ren und des­halb wie­der ein­mal die­je­ni­gen, die zu­rück­stecken muss­ten und es schwer hat­ten.

Mit „Gul­den­berg” ist der Au­tor ganz in un­se­rer Ge­gen­wart an­ge­kom­men. Wie schon im „Ge­gen­lausch­an­griff” ste­hen sich zwei Kul­tu­ren ge­gen­über: Auf der ei­nen Sei­te die E­tab­lier­ten, die schon mit dem System ver­trau­ten und auf der an­de­ren Sei­te, die­je­ni­gen, die aus ih­rer al­ten Hei­mat flie­hen muss­ten, in dem Fall jun­ge Flücht­lin­ge aus Af­gha­ni­stan und Sy­rien. Es ge­lingt Christoph Hein hier sehr gut auf­zu­zei­gen, wie Äng­ste, Ig­no­ranz und der Ras­sis­mus das Zu­sam­men­le­ben be­hin­dern und be­stim­men.

Das dritte Buch im Bunde, „Land­nah­me” beschreibt das Leben eines aus den „e­he­ma­li­gen Ost­ge­bie­ten Deutsch­lands” Ver­trie­be­nen, der nach Gul­den­burg (ja auch hier „Gul­den­burg”!) kam, als Land­nah­me. Was wir in un­se­rer Ge­ne­ra­tion gar nicht so mit­be­kom­men ha­ben: Die Vor­ur­tei­le, mit de­nen da­mals die Ver­trie­be­nen be­dacht wur­den, und die Vor­ur­tei­le ge­gen­ü­ber den Flücht­lin­gen heu­te, be­we­gen sich auf dem­sel­ben er­schrecken­den Ni­ve­au. Auch die Ig­no­ranz ge­gen­ü­ber dem Schick­sal der je­weils An­de­ren, schenkt sich nichts. Auch wenn ei­nen das sehr be­trof­fen macht: Sehr le­sens­wert.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
Na­ta­scha Wo­din war 10 Jah­re alt, als ihre Mut­ter 1956 wort­los die Woh­nung ver­ließ und nicht wie­der­kam.
I­hre Mut­ter ­ stamm­te aus der U­kra­i­ne, aus Ma­ri­u­pol. Von dort war sie 1944 von den Deut­schen (ich schrei­be be­wusst nicht: „von den Na­zis”) als „Fremd­ar­bei­te­rin” ins Deut­sche Reich, nach Leip­zig, ver­schleppt wor­den, wo sie in einer Rüstungs­fa­brik Zwangs­ar­beit leisten muss­te. Dort lern­te sie ih­ren spä­te­ren E­he­mann, den Va­ter der Au­to­rin ken­nen. Die Fa­mi­lie blieb nach dem En­de des Krie­ges in Deutsch­land, denn wä­ren sie in die U­kra­i­ne zu­rück­ge­kehrt, hät­te man sie dort e­ven­tu­ell als Kol­la­bo­ra­teu­re mit den Na­zis hin­ge­rich­tet. Also leb­ten sie nach dem Krieg in ei­ner Sied­lung für so ge­nann­te „hei­mat­lo­se Aus­län­der”.

50 Jah­re spä­ter hat­te die Au­to­rin den Na­men ih­rer Mut­ter ‚ein­fach so’ in ei­ne In­ter­net-Such­ma­schi­ne ein­ge­ge­ben und wur­de fün­dig. Das Buch ist das Re­sul­tat ei­ner sich da­ran an­schlie­ßen­den a­tem­be­rau­bend ge­schil­der­tem Re­cher­che, bei der Na­ta­scha Wo­din nach und nach Zeit­zeu­gen und Do­ku­men­te zu­ta­ge för­der­te, die die Le­bens­ge­schich­te der Mut­ter be­zeu­gen konn­ten. Die Mut­ter hat­te so­wohl rus­si­sche Ad­li­ge als Vor­fah­ren als auch i­ta­lie­ni­sche Ein­wan­de­rer, die vor der Re­vo­lu­tion rei­che Un­ter­neh­mer wa­ren und nach der Re­vo­lu­tion Al­les ver­lo­ren.

Das Buch hat gar nichts mit dem ak­tu­el­len U­kra­i­ne-Krieg zu tun. Das ist völ­lig egal, es ist ein­fach so span­nend.
Letzt­lich stellt sich hier ↑ die Fra­ge nach der deut­schen Schuld an den durch den zwei­ten Welt­krieg ver­ur­sach­ten Lei­den noch­mals völ­lig neu: Wir fühl­(t)­en uns den Rus­sen ge­gen­ü­ber schul­dig. Da­bei hat­te die Be­völ­ke­rung der U­kra­i­ne ge­nau­so zu lei­den. Das ist ei­ne im deut­schen Be­wusst­sein weit­ge­hend ver­dräng­te Ge­schich­te, was ei­nen Teil der ‚Hol­pe­rig­kei­ten’ der deutsch-u­kra­i­ni­schen Be­zie­hun­gen er­klärt!
Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer
Wahr­schein­lich ein Frau­en­buch ?!? Die­ses Buch habe ich wie­der im Bü­cher­schrank ent­deckt: Für je­man­den, der wie ich am Bo­den­see auf­ge­wach­sen ist und ein­mal das Meers­bur­ger Schloss be­sich­tigt hat, ist An­net­te von Droste-Hüls­hoff ein Be­griff. Den­noch wuss­te ich, be­vor ich die­ses Buch ge­le­sen hat­te, nicht wirk­lich etwas Sub­stan­ziel­les über sie. Die­se Bio­gra­phie er­zählt von der Le­bens­ka­ta­stro­phe von An­net­te von Droste-Hüls­hoff: Für ei­ne Frau, die sich nicht ein­fach an­pas­sen will, sich nicht ein­fach ei­nen Mann zu­ord­nen las­sen will, die ih­ren ei­ge­nen Kopf hat: Für die war's noch Jahr­zehn­te zu früh. Die Leu­te um sie he­rum wa­ren noch dem Feu­da­lis­mus ver­haf­tet. Da­für war's aber zu spät, denn die fran­zö­si­sche Re­vo­lu­tion hat­te be­reits statt­ge­fun­den und die Welt war im Um­bruch.
Marina Lewycka: A Short History of Tractors in Ukrainian
Marina Lewycka: Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch
Nur we­gen des Wor­tes U­kra­i­nisch ha­be ich die­ses Buch noch­mal in die Hand ge­nom­men. Mit der ak­tu­el­len Si­tu­a­tion in der U­kra­i­ne hat es aber nichts (wirklich: gar nichts!) zu tun.
Ein 84-Jäh­ri­ger ver­liebt (?!?) sich zwei Jah­re nach dem Tod sei­ner Ehe­frau in ei­ne 36-jäh­ri­ge U­kra­i­ne­rin, die so al­le Vor­ur­tei­le be­stä­tigt, die man ha­ben kann:
  • Blond,
  • in erster Li­nie Ober­wei­te D,
  • nicht sehr ge­bil­det,
  • hat es wohl auf das Ver­mö­gen des 84-Jäh­ri­gen ab­ge­se­hen,
  • usw.,
  • usw..
Die Töch­ter sind ent­setzt. Der Va­ter sieht kei­ne Pro­ble­me, sagt den Töch­tern, sie sei­en spie­ßig. In­te­res­san­ter­wei­se schafft es die Au­to­rin, dass das Buch den­noch nicht ins Kla­mauk­haf­te ab­kippt. Im Ge­gen­teil, letzt­lich müs­sen sich al­le (die Töch­ter, der Va­ter und Le­se­rin­nen und Le­ser) fra­gen, wel­che Vor­ur­tei­le sie so mit sich he­rum­tra­gen, und wie das un­se­re All­tags­be­zie­hun­gen prägt. Dass der Au­to­rin die­se Kon­fron­ta­tion ge­lingt, fin­de ich stark!

Das Beste hät­te ich bei­na­he ver­ges­sen: Man er­fährt wirk­lich et­was ü­ber die Ge­schich­te des Trak­tors!
Christian Berkel: Der Apfelbaum
Der Schau­spie­ler Christian Ber­kel er­zählt die Ge­schich­te sei­ner El­tern: Die Mut­ter stammt aus ei­ner in­tel­lek­tu­el­len jü­di­schen Fa­mi­lie, der Va­ter ist ein Sproß der Ar­bei­ter­klas­se. Im zwei­ten Welt­krieg wird die Mut­ter in ei­nem KZ in den Py­re­nä­en in­ter­niert, wäh­rend der Va­ter als Sa­ni­täts­arzt an der Ost­front dient. Zehn Jah­re lang ha­ben die bei­den sich nicht ge­se­hen, trotz­dem fin­den sie sich wie­der. Christian Ber­kel er­zählt die Ge­schich­te über 3 Ge­ne­ra­tio­nen. Die Sta­ti­o­nen der Ge­schich­te sind: As­co­na, Ber­lin, Pa­ris, Gurs und Mos­kau, zu­letzt noch Bu­e­nos Ai­res. Wäh­rend des Le­sens steht ei­nem der Mund of­fen und man denkt, „Das gibt's doch gar nicht!” — Bril­li­ant er­zählt!
Irmgard Keun: D-Zug dritter Klasse
Die­se Au­to­rin ist ei­ne Wie­der­ent­deckung: Irm­gard Keun wur­de 1905 in Ber­lin ge­bo­ren. In der Zeit vor dem 2. Welt­krieg war sie eine be­kann­te und er­folg­rei­che Schrift­stel­le­rin. 1936 ging sie ins Exil. Vier Jah­re spä­ter kehr­te sie mit fal­schen Pa­pie­ren nach Deutsch­land zu­rück, wo sie un­er­kannt leb­te. Ih­re nach dem Krieg er­schie­ne­nen Bü­cher hat­ten nicht den Er­folg, wie ih­re Vor­kriegs­wer­ke. Erst in den Sieb­zi­ger­jah­ren wur­de sie von ei­nem brei­ten Pub­li­kum wie­der­ent­deckt.
Den Ro­man schrieb die Au­to­rin im Exil: Im Ab­teil im Zug nach Pa­ris sit­zen 6 Men­schen. Je­de(r) von ih­nen hat ein Ge­heim­nis .... und nicht je­de(r) kommt da an, wo sie oder er hin will....
Dmitry Glukhovsky: Text
Дмитрий Алексеевич Глуховский: Текст
Ein wei­te­rer Grund Ama­zon zu boy­kot­tie­ren ist die Tat­sa­che, dass Ama­zon auf sei­ner Web­site kei­ne rus­sisch-spra­chi­gen Bü­cher mehr ver­kauft. Man kann ja da­rü­ber strei­ten, ob man Au­to­ren, die den An­griffs­krieg Pu­tins un­ter­stützen, pro­te­gie­ren muss. Die pau­scha­le Ver­ban­nung al­ler rus­sisch-spra­chi­gen Bü­cher aus dem Han­del trifft mit Si­cher­heit auch die Fal­schen. Der Au­tor die­ses Bu­ches ge­hört wohl auch da­zu, denn er ist be­stimmt kein Freund Pu­tins.

In dem Buch „Text” geht es um ei­nen Mann na­mens Il­ja, der nach sie­ben Jah­ren Straf­la­ger end­lich nach Hau­se kommt. Er sucht je­nen Fahn­der auf, der ihn sie­ben Jah­re zu­vor zu Un­recht hin­ter Git­ter ge­bracht hat­te, tö­tet ihn und nimmt des­sen Iden­ti­tät an. Das Buch zeigt Ab­grün­de ei­ner Ge­sell­schaft auf, in der der Ein­zel­ne nicht auf sein Recht po­chen kann, son­dern der Will­kür aus­ge­setzt ist.

Glukhovsky zeich­net in dem Ro­man, der ei­gent­lich ein Kri­mi ist, ein düste­res Bild der rus­si­schen Ge­sell­schaft. Die im­pli­zi­te The­se lau­tet hier: Die Zu­ge­hö­rig­keit zu fa­mi­li­ä­ren Netz­wer­ken oder (kri­mi­nel­len) Clan­struk­tu­ren ist weit wich­ti­ger für den per­sön­li­chen/be­ruf­li­chen Er­folg ei­nes Je­den als Leistung oder Ori­en­tie­rung an ethi­schen Prin­zi­pi­en.
Toshikazu Kawaguchi: Bevor der Kaffee kalt wird
Ei­ne skur­ri­le Ge­schich­te, ... ei­gent­lich vier skur­ri­le Ge­schich­ten. In ei­nem Ca­fe in Ja­pan kann man un­ter be­stimm­ten Um­stän­den in die Ver­gan­gen­heit rei­sen, ... je­den­falls so lan­ge der Kaf­fee nicht kalt wird.
Von vier die­ser Ver­gan­gen­heits­rei­sen be­rich­tet das Buch. Man be­ginnt un­will­kür­lich zu re­flek­tie­ren, zu wel­chen Stel­len des ei­ge­nen Le­bens man sich so ei­ne Rück­rei­se wün­schen wür­de. Zum Glück ist mir da nichts We­sent­li­ches ein­ge­fal­len. Den­noch fand ich das Buch nicht nur in die­ser Hin­sicht an­re­gend.
Christopher Clark: Die Schlafwandler Wie Europa in den ersten Weltkrieg zog
Christopher Clark: The Sleep­wal­kers How Eu­ro­pe Went to War in 1914
Die ak­tu­el­len Er­eig­nis­se in der U­kra­i­ne er­in­ner­ten mich wie­der an die­ses Buch, wel­ches ich schon vor ei­ni­ger Zeit ge­le­sen ha­be. Auch wenn die Um­stän­de heu­te ganz an­de­re sind, so gibt es doch ein ge­mein­sa­mes E­le­ment: Die Über­ra­schung. Un­ähn­lich zu 1914 ist, dass sich da­mals vor Al­lem die Herr­schen­den ü­ber­rascht wa­ren, heu­te sind wir da schon de­mo­kra­ti­scher: Wir ha­ben ver­drängt oder, mi­lder ge­sagt, nicht vor­her­ge­se­hen, dass es Fein­de der De­mo­kra­tie gibt und dass die­se ent­spre­chend a­gie­ren kön­nen und wer­den.
Das Buch er­in­nert uns pri­ma da­ran, wo­hin das füh­ren kann ...
Jonas Jonasson: The Girl Who Saved the King of Sweden
Jonas Jonasson: Die Analphabetin, die rechnen konnte
Über­setzun­gen von Buch­ti­teln ins Deut­sche lass­en ei­nen manch­mal stau­nen. Der deu­tsche Ti­tel ist in­halt­lich nicht wirk­lich falsch und ... be­zo­gen auf den In­halt des Bu­ches so­gar ei­gent­lich noch spe­zi­fi­scher als der eng­li­sche Ti­tel. Wahr­schein­lich hat­te man hier die Be­fürch­tung, dass sich in Deutsch­land nie­mand für Leu­te in­ter­es­siert, die den schwe­di­schen Kö­nig ret­ten.
Die­se Ge­schich­te der jun­gen Süd­a­fri­ka­ne­rin Nom­be­ko ha­be ich vor ei­ni­gen Jah­ren ge­le­sen. Ich fand die Ge­schich­te skur­ril und lustig und sie geht, in An­be­tracht des­sen, was ei­ne jun­ge Süd­a­fri­ka­ne­rin die­ser Her­kunft „nor­ma­ler­wei­se” für ein Le­ben zu er­war­ten hät­te, für die Hel­din er­fri­schend po­si­tiv aus.
Joachim Radkau: Ge­schich­te der Zu­kunft Prog­no­sen, Vi­si­on­en, Ir­run­gen in Deutsch­land von 1945 bis heu­te
Joachim Rad­kau be­schreibt in chro­no­lo­gi­scher Ab­fol­ge, wel­che Prog­no­sen von 1945 an bis heu­te so ver­brei­tet wur­den, wel­che kor­rekt wa­ren, wel­che teil­wei­se zu­tra­fen und wel­che Uto­pie blie­ben.

In der drit­ten Grund­schul­klas­se En­de der 60er-Jah­re er­klär­te uns un­ser Klas­sen­leh­rer, dass wir gut dran sei­en, denn im Jahr 2000 müss­ten wir gar nicht mehr ar­bei­ten, weil die Ar­beit dann von Ro­bo­tern er­le­digt wer­den wür­de. Et­wa bei der Häl­fte der Bei­spie­le, die die­ses span­nen­de Buch dar­bie­tet, stellt sich ein ähn­li­ches Ge­fühl ein, wie wenn ich heute über die Prog­no­se mei­nes Klas­sen­leh­rers nach­den­ke. „Scha­de!”, den­ke ich, „hat wohl (noch) nicht ge­klappt.”

Bei fast al­len an­de­ren Bei­spie­len, die in dem Buch ge­schil­dert wer­den, den­ke ich „Gott sei Dank, dass das nicht so ein­ge­tre­ten ist!” Schon al­lein des­we­gen lohnt es sich das Buch zu le­sen.
Hermann Schulz: Therese Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte
Der Au­tor Her­mann Schulz ist als Mis­sio­nars­sohn in Af­ri­ka zur Welt ge­kom­men. 1977 be­such­te er wie­der To­go. Er war dort der ein­zi­ge Wei­ße in ei­nem Su­per­markt und wur­de zu sei­ner Über­raschung von ei­ner Frau in akzent­frei­em Deutsch an­ge­spro­chen. Die­se Frau er­zähl­te ihm, dass sie, wie er, aus Wup­per­tal komme, wo sie 1900 als Kind ei­ner Völ­ker­schau­trup­pe aus der ehe­ma­li­gen deutschen Ko­lo­nie To­go ge­bo­ren wur­de.

Das Buch er­zählt die Ge­schich­te die­ser Frau na­mens The­re­se von 1900 bis zur der Macht­er­grei­fung Hit­lers 1933, als ihr die Aus­rei­se aus Deutsch­land in das ihr bis da­hin völ­lig un­be­kann­te To­go ge­lingt. Die Er­zäh­lung geht von Ih­rem Auf­wach­sen in ei­ner christ­lich ge­präg­ten Pfle­ge­el­tern­fa­mi­lie bis zu Ih­rer letz­ten Tä­tig­keit in Deutsch­land als Lei­te­rin ei­nes Kin­der­heims in Ham­burg.

„Bin ich ei­ne Deutsche? Bin ich ei­ne Afri­ka­ne­rin? Die­se Fra­gen wür­den sie noch vie­le Jah­re be­schäf­ti­gen, doch ir­gend­wann wür­de sie wis­sen, dass die Fra­ge un­sin­nig war” Ein sehr be­mer­kens­wer­tes Buch....
Laetitia Colombani: Das Haus der Frauen
Vor der Au­gen der Pa­ri­ser Star­an­wäl­tin So­lè­ne be­geht ein Man­dant Selbst­mord. So­lè­nes bis­he­ri­ges Wer­te­sys­tem er­fährt da­durch ei­nen Crash. Die jun­ge Frau nimmt sich ei­ne Aus­zeit. Eher durch Zu­fall (?) en­ga­giert sie sich in ei­nem Frau­en­haus in Pa­ris, wel­ches in den 20er-Jah­ren des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts von Blan­che Pey­ron, ei­ner Vor­kämpfe­rin der Heils­ar­mee, er­baut wor­den war, da­mals ei­ne völ­li­ge No­vi­tät.
Der Ro­man lebt da­von, dass er per­spek­ti­visch zwi­schen dem Le­ben der Blan­che Pey­ron und dem Le­ben der Star­an­wäl­tin So­lè­ne hin- und her­pen­delt. Ob­wohl es So­lè­ne ma­te­riell un­gleich bes­ser geht als der Blan­che Pey­ron 100 Jahre zu­vor, wird im Ro­man deut­lich, dass Sinn im Le­ben nur durch das Wag­nis des sich Ein­las­sen zu­stan­de kommt. Das ist immer noch schwer, heu­te wie da­mals. Das wie? wird in dem Buch span­nend er­zählt.

Laetitia Colombani: Der Zopf
Dieses Buch hat bisher nur meine Frau gelesen. Sie fand es auch gut. Mehr kann ich bis jetzt nicht dazu sagen.
Lena Gorelik: Wer wir sind
» Wie die Er­in­ne­rung manch­mal das Jetzt über­tönt. Wie sie sich über al­les legt, wie ein Dickicht aus Ver­let­zun­gen, Mustern und Fra­gen. Wie ich nicht mehr weiß, wie ich wur­de und wann. Und ich den­noch be­gin­ne zu er­zäh­len. «
Diese Sät­ze ste­hen am An­fang von Le­na Go­re­liks au­to­bio­gra­phi­schem Ro­man, in dem sie schil­dert, wie sie, ihre El­tern, ihre Groß­mut­ter und ihr Bru­der 1992 von Le­nin­grad (heu­te: Sankt Pe­ters­burg) nach Deutsch­land, „in die Frei­heit” ka­men. Sie ka­men als so ge­nann­te „jü­di­sche Kon­tin­gent­flücht­lin­ge”.
»Das ist dei­ne Ge­schich­te», sagt mei­ne Mut­ter, als ich ihr die­se Zei­len zei­ge.« Mit dem Satz en­det das Buch.
Klaus Kordon: Julians Bruder      Ich zitiere aus der Buchbesprechung auf buecher.de:
»Paul und Ju­li­an wach­sen im Ber­lin der 30er-Jah­re wie Brü­der auf. Den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus über­lebt Ju­li­an in Ver­stecken: Er ist Ju­de. Nach dem Krieg könn­te für die bei­den ein neu­es Le­ben be­gin­nen, doch schon nach we­ni­gen Ta­gen Frie­den wer­den sie ver­haf­tet und kom­men in ein sow­jeti­sches In­ter­nie­rungs­la­ger - das ehe­ma­li­ge KZ Buchen­wald.«

Klaus Kor­don (ge­bo­ren 1943) ist ja kein Zeit­zeu­ge. Aber er be­schreibt die Zeit so plastisch, wie es wahr­schein­lich ein Zeit­zeu­ge nicht hin­be­kom­men wür­de. Ich ha­be das Buch von ei­ner Freun­din aus­ge­lie­hen be­kom­men, nach­dem wir uns da­rü­ber un­ter­hal­ten hat­ten, wie nach dem 2. Welt­krieg auch die Be­satzungs­zeit die Men­schen im Osten zu­sätz­lich trau­ma­ti­siert ha­ben muss.
Marion Brasch: Ab jetzt ist Ruhe Roman meiner fabelhaften Familie

„Im Osten wa­ren die Wi­der­stän­de aus Be­ton. Im Westen sind sie aus Gum­mi.” be­klagt sich der in den Westen aus­ge­reiste äl­teste Bru­der der Au­to­rin, als sie sich heim­lich in Bu­da­pest tref­fen.

Der Va­ter von Ma­rion Brasch, dem zur Na­zi­zeit die Flucht ins Lon­do­ner Exil ge­lang, kehr­te aus dem Exil nach Ost-Ber­lin zu­rück, wo er sei­nem neu­en Ideal, dem So­zi­a­lis­mus die­nen woll­te. Die Mut­ter der Au­to­rin, ei­ne aus Wien stam­men­de Jü­din, die er im Exil ge­hei­ra­tet hat­te, woll­te nicht in die DDR und folg­te ihm des­halb erst spä­ter nach. Kei­nes der vier Kin­der des Paa­res teil­te die Idea­le des Va­ters: Der Äl­teste, ein Schrift­stel­ler, ging in den Westen, weil er im Osten sein Buch nicht ver­öf­fent­li­chen konn­te. Sein SED-Funk­tio­närs-Va­ter wur­de des­we­gen ab­ge­straft, in­dem er auf eine min­der wich­ti­ge Stel­le, in die Pro­vinz, nach Karl-Marx-Stadt ver­setzt wur­de.

Was die an­de­ren drei ge­macht haben, wird hier nicht ver­ra­ten, aber ei­nes ist klar: Das Buch lebt von den mu­ti­gen Men­schen, die ge­gen al­le Wi­der­stän­de in dem Land, wel­ches es nicht mehr gibt, ihren Weg ge­gan­gen sind.
Philip Roth: Nemesis
2012 er­schien das Buch Philip Roths über die Po­lio-Epi­de­mie in den USA im zwei­ten Welt­krieg, als es noch kein Ge­gen­mit­tel ge­gen Po­lio gab, ja als noch nicht ein­mal klar war, wie sich Po­lio ver­brei­te­te.
Der 23-jäh­ri­ge Sport-Leh­rer ar­bei­tet in ei­nem gut bür­ger­li­chen jü­di­schen Vier­tel in der Stadt Newark. Er be­dau­ert, dass er we­gen ei­nes Seh-Feh­lers ei­ne Bril­le be­nö­tigt und des­halb nicht so, wie seine an­de­ren Al­ters­ge­nos­sen zur Ar­mee ein­ge­zo­gen wor­den war. Trotz­dem ist er ein brilli­an­ter Sport­ler, un­ter An­de­rem Schwim­mer und Turm­sprin­ger. Er er­krankt selbst an Po­lio. Wie­der ge­ne­sen, kann er sein lin­kes Bein und sei­nen lin­ken Arm nicht mehr rich­tig be­we­gen. Mit sei­nem Sport­ler-Da­sein ist Schluss. Nichts von dem, was ihm im Le­ben wich­tig war, geht noch.
Er kommt nicht mehr in sein al­tes Le­ben zurück, er wen­det sich von sei­ner Ver­lob­ten ab und er­laubt nicht mehr, dass sei­ne Ver­lob­te ihn hei­ra­tet. Er sieht sein Le­ben ent­wer­tet und denkt er wä­re nun ei­ne Zu­mu­tung für sie.
Min­des­tens ge­nau so schlimm, wie die Ent­wer­tung sei­nes Le­bens durch die Krank­heit ist die Selbst­ent­wer­tung, die er vor­nimmt. Ein Phä­no­men, das wir heu­te auch bei Co­ro­na-Ge­ne­se­nen be­ob­ach­ten kön­nen. Die Krank­heit zer­stört im­mer mehr als nur die kör­per­li­chen Fä­hig­kei­ten. In­so­fern ist das ein hoch­ak­tu­el­les Buch....
Grit Lemke: Kinder von Hoy Freiheit, Glück und Terror
Für uns Wessis gilt Hoyers­wer­da seit den rechts­ra­di­ka­len und ras­sisti­schen Vor­fäl­len der Nach­wen­de­zeit als der Un-Ort im Osten schlecht­hin. ... Und jetzt schreibt diese Au­to­rin ge­nau da­rü­ber ein Buch! Aber was für eins! Grit Lemke, die in 60er-Jah­ren nach Hoyers­wer­da ge­kom­men ist, ver­knüpft au­to­bio­graphi­sches Ma­te­rial mit den Er­zähl­un­gen an­de­rer „Kin­der von Hoy”. Sie er­zählt vom Le­ben in der DDR-Muster­stadt von ih­rer Kind­heit und Ju­gend bis zu den Ta­gen der Nach­wen­de­zeit in die­ser Stadt. In mei­nen Au­gen ein sehr ehr­li­ches Buch, das nichts be­schö­nigt und das ei­nem ge­ra­de des­halb die Ge­schich­te die­ser Stadt und ih­rer Be­woh­ner na­he bringt.
Eva Menasse: Dunkelblum
Dunkel­blum ist ein fik­ti­ver Ort in Öster­reich na­he der Gren­ze zu Un­garn. Im Som­mer 1989 war­ten Hun­der­te von DDR-Flücht­lin­gen hin­ter Gren­ze. Ein Ske­lett wird ge­fun­den und die Be­woh­ner des Städt­chens be­gin­nen sich an eine al­te Schuld zu er­in­nern.
Das Buch lebt da­von, dass man sich nicht über die Men­schen von Dun­kel­blum er­he­ben kann. Statt­des­sen stellt sich der Le­se­rin/dem Le­ser die Fra­ge: „Wie hät­te ich mich in so ei­ner Si­tua­tion ver­hal­ten?”
Uwe Tellkamp: Der Turm Geschichte aus einem versunkenen Land
Dieter Zimmer: Für'n Groschen Brause Ein Familienroman

Als das Buch von Uwe Tell­kamp im Jahr 2006 er­schien und auch als es ver­filmt wur­de, ha­be ich es nicht zur Kennt­nis he­nom­men. In der Be­spre­chung auf www.buecher.de wird es so be­schrie­ben: „Ein mo­nu­men­ta­les Pa­no­ra­ma der un­ter­ge­hen­den DDR, in der An­ge­hö­ri­ge drei­er Ge­ne­ra­tio­nen teils ge­stal­tend, teils ohn­mäch­tig auf den Mahl­strom der Re­vo­lu­tion von 1989 zu­trei­ben.” → Ja, stimmt!

Das Buch von Die­ter Zim­mer lag im Ur­laub in un­se­rer Un­ter­kunft. Wäh­rend der Ro­man von Uwe Tell­kamp eine In­nen­sicht aus der Welt kurz vor dem En­de der DDR zeich­net, geht es in dem of­fen­sicht­lich stark au­to­bio­gra­phisch orien­tier­ten Be­richt um die An­fän­ge der DDR in den 50er-Jah­ren. Der Au­tor schil­dert plastisch, wie man sich als jun­ger Mensch da­mals in der Ge­sell­schaft zu­recht­fin­den musste. Was konn­te man wem an­ver­trau­en und sagen und an wel­chen Wer­ten orien­tier­te man sich?
Helga Schubert: Vom Aufstehen Ein Leben in Geschichten
Hel­ga Schu­bert ist auf den Tag ge­nau 20 Ja­hre äl­ter als ich. Was ich aus ih­rem Buch he­raus­spü­re, ist Al­ters­weis­heit, wie ich sie auch ge­rne ha­ben möcht­e und Ver­söhnt­sein mit den schwie­ri­gen Sei­ten des Le­bens. Kei­ne bil­li­ge Zu­frie­den­heit, nein, ver­söhnt sein ist Er­geb­nis ei­ner Aus­ein­an­der­setzung mit all dem, wo­mit wir zu­nächst ein­mal nicht ein­ver­stan­den sein kön­nen. Aus­ein­an­der­setzung so, dass wir bei uns blei­ben kön­nen und et­was vom Le­ben ha­ben. Wie das ge­hen kann, zeigt sie uns in 29 Ge­schich­ten aus ih­rem Le­ben.
Susan Neiman: Moralische Klarheit Leitfaden für erwachsene Idealisten
Ei­nes der Ver­dienste des Bu­ches von Su­san Nei­man ist es, an vie­len Bei­spie­len auf­zu­zei­gen, wie die ei­ge­ne Hal­tung zu mo­ra­li­schen Fra­gen durch die ei­ge­ne so­zi­a­le Stel­lung, die je­wei­li­ge Her­kunft ge­prägt wird. Wer un­ter pre­kä­ren Ar­beits­be­din­gun­gen im all­täg­li­chen Ge­ran­gel um Jobs steht wird das an­ders se­hen, wie je­mand der in ge­si­cher­ten wohl­ha­ben­den Ver­hält­nis­sen, z. B. als Arzt, sein ge­re­gel­tes Ein­kom­men hat. Je­mand, der in ei­nem Bür­ger­kriegs­land auf­wächst, wo kei­ne staat­li­che Macht für Recht und Or­dnung sorgt, wird Mo­ral ganz an­ders de­fi­nie­ren, wie je­mand der mit ei­ner sta­bi­len Rechts­ord­nung auf­wächst, sei die­se au­to­ri­tär ideo­lo­gisch oder li­be­ral ge­prägt. Su­san Nei­man zeigt auf, dass mo­ra­li­sche Wer­te nicht ein­fach aus vor­ge­ge­be­nen Re­geln ab­leit­bar sind. Mo­ra­li­sche Wer­te setzen ein in­di­vi­du­el­les Nach­den­ken vor­aus und ent­sprin­gen aus der Über­nah­me von Ver­ant­wor­tung in ei­ner ge­ge­be­nen Si­tu­a­tion.
Das Buch ist so su­per, weil es mir die Au­gen ge­öff­net hat, wie mei­ne El­tern- und mei­ne Groß­el­tern-Ge­ne­ra­tion ihr mo­ra­li­sches Ge­rüst durch ihre je­wei­li­ge Le­bens­si­tu­a­tion ge­prägt mit­be­kom­men und mit­ge­nom­men ha­ben. Auf den ersten Blick er­scheint das tri­vi­al, aber die Qua­li­tät des Buc­hes be­steht darin, die­sen Zu­sam­men­hang ge­nau­er und de­tail­lier­ter auf­zu­zei­gen und oben­drein die klas­si­sche Ethik mit­zu­dis­ku­tie­ren.
Susan Neiman: Learning from the Germans Confronting Race and the Memory of Evil
Susan Neiman: Von den Deutschen lernen Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können
Henryk M. Broder: Vergesst Auschwitz! Der deutsche Erinnerungswahn und die Endlösung der Israel-Frage

Für uns Deutsche bringt Susan Neimans Buch ei­nen ra­di­ka­len Per­spek­tiv­wech­sel: Susan Neiman, ei­ne US-Ame­ri­ka­ne­rin mit jü­di­schen Wur­zeln, schreibt die­ses Buch für ihre Lands­leu­te. Sie zeigt auf, was an der deutschen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung nach dem drit­ten Reich ihrer Mei­nung nach rich­tig ge­lau­fen ist. Aus­ge­hend von der Nach­kriegs­si­tua­tion ge­lingt es ihr, díe „Schuld” der Deutschen zu be­nen­nen.
Ich konn­te schon im­mer ver­ste­hen, dass die Men­schen mei­ner Groß­el­tern­ge­ne­ra­tion, die, selbst wenn sie den Na­zis na­he­stan­den, den Krieg, wie ihn Hit­ler dann an­ge­zet­telt hat, nie ge­wollt hat­ten, sich dann am En­de des Krie­ges, wenn sie ihre Hei­mat oder ih­nen na­he­ste­hen­de Per­so­nen ver­lo­ren hat­ten, als Opfer fühl­ten.
Es ist und war die Stär­ke des Pro­zes­ses der „Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung”, dass die­se Men­schen oder de­ren Nach­kom­men, sich den­noch für die Fol­gen des Rassis­mus, die Fol­gen der ras­sisti­schen Hal­tun­gen, ver­ant­wort­lich er­klär­ten.
Das Buch star­tet auch mit der kla­ren Aus­sa­ge, dass Ras­sis­mus in den Süd­staaten der USA und der Ras­sis­mus im 3.Reich letzt­lich als solche nicht ver­gleich­bar sind. Sie zeigt aber auf, wie wir die Art und Weise, wie in den je­wei­li­gen Län­dern dem Ras­sis­mus be­geg­net wird, sehr wohl ver­glei­chen kön­nen. Es ge­lingt Susan Neiman die Un­ter­schie­de im Um­gang mit der je­weils ei­ge­nen Ge­schich­te auf­zu­zei­gen. Für mich ein fas­zi­nie­ren­des Buch, weil es auch die ei­ge­nen blin­den Flecken aus­leuch­tet.

Den Ge­gen­part zu Su­san Nei­man lie­fert Hen­ryk Bro­ders Buch. Im Geg­en­satz zu ihr stellt er den Umgang mit dem Antisemitismus in Deutschland als gänz­lich ge­schei­tert dar. Er be­schreibt das An­den­ken an Au­schwitz und an die Shoa wie eine Krank­heit, die die Deut­schen be­fal­len hat: Ei­ne Krank­heit, die das Ge­gen­teil von dem be­wirkt, was sie zu be­wir­ken vor­gibt, die den An­ti­se­mi­tis­mus stärkt statt schwächt.
Igor Levit und Florian Zinnecker: Hauskonzert
Das Buch ist kei­ne Li­te­ra­tur im klas­si­schen Sin­ne. Das Buch ist kein Ro­man. Es ist eher ein Ta­ge­buch, wel­ches die Ge­dan­ken des er­folg­rei­chen Pia­nisten Igor Levit dar­legt. Igor kam 1985 mit sei­nen El­tern nach Deutsch­land, als die Bun­des­re­pub­lik jü­disch­stäm­mi­gen Men­schen aus der Sow­jet­union als "Kon­tin­gent­ju­den" die Ein­rei­se nach Deutsch­land er­laub­te. Sei­ne El­tern ent­schlos­sen sich zu die­sem Schritt, weil sie woll­ten, dass ihre Kin­der es „ein­mal bes­ser ha­ben” soll­ten. Igor Levit ist als Künst­ler und Mu­si­ker an­er­kannt und ge­schätzt. In dem Au­gen­blick, wo er es sich aber er­laubt vor sei­nem Kon­zert dem Pub­li­kum sei­ne Ge­dan­ken über das „bes­ser” dar­zu­le­gen, da schei­den sich die Geister!
An ei­ner Stel­le im Buch schreibt er dazu:

»Nach je­der ras­sisti­schen At­tacke, nach je­dem An­schlag gibt es min­destens ei­nen Po­li­ti­ker, der sagt:›Da­mit das klar ist, in un­se­rem Land gibt es kei­nen Platz für Ras­sis­mus‹. Es gibt aber eine Men­ge Platz für Ras­sis­mus, lei­der gab es immer Platz da­für. Be­greift das! Hört auf, Ne­bel­ker­zen zu wer­fen, hört auf zu re­den, als wä­ren wir fünf Jahre alt! Sprecht aus, was ist: Wir ha­ben ein sehr ern­stes Pro­blem mit Ras­sis­mus und An­ti­se­mi­tis­mus. Wir soll­ten mit un­se­rer Spra­che ein biss­chen er­wach­se­ner wer­den.«
Thea Dorn: Trost Briefe an Max
Das Buch ent­hält ei­nen Brief­wech­sel zwi­schen ei­ner Frau, de­ren Mut­ter an Co­ro­na ver­starb, und ei­nem al­ten Freund. Die Mut­ter wird be­schrie­ben als le­bens­lusti­ge selbst­stän­di­ge Frau, die ei­ne Künst­ler­agen­tur be­trieb und mit bei­ Bei­nen voll im Le­ben stand. We­gen Co­ro­na nicht ver­rei­sen? → Nein! Kon­tak­te des­we­gen ein­schrän­ken? → Nein! Was soll das Al­les? So kommt die Mut­ter rüber. Sie stirbt an den Fol­gen der Covid-In­fek­tion. Die Toch­ter hat­te kei­ne Mög­lich­keit sich von Ih­rer Mut­ter zu ver­ab­schie­den.

Thea Dorn, wohl das al­ter Ego der Pro­ta­go­nistin, lässt es kra­chen. Mit Ih­rer gan­zen In­tel­lek­tua­li­tät be­fragt sie sich selbst und all Ihr Wis­sen und rä­so­niert, wie ..., wo ..., auf wel­che Wei­se sie in die­ser Si­tua­tion Trost re­fah­ren könn­te. Thea Dorn lässt nichts aus: Re­li­gi­on, Gott, die an­ti­ken, die neu­zeit­liche­ren Phi­lo­sophen, de­ren „Trost” tröstet sie nicht. Am En­de des Bu­ches wird deut­lich, Trost ist teuer. Er kann das Le­ben kosten. Und nur, wenn ich mich ehr­lich auf den Weg mache und mir klar mache, was für mich wirk­lich wich­tig ist im Le­ben, kann ich so et­was wie Trost er­fah­ren.

Ein un­mög­li­ches Buch! Ich bin froh, dass ich's ge­le­sen ha­be.
Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch
In ei­nem Ar­ti­kel der ak­tu­el­len Aus­ga­be der Zeit wird auf­ge­zeigt, wie Fer­di­nand von Schi­rach ver­sucht die Grund­rech­te der Men­schen neu zu for­mu­lie­ren. Sein Ziel: Ei­ne De­bat­te ü­ber die Ge­stalt einer ak­tu­el­len Ver­sion der mensch­li­chen Grund­rechte.
Christoph Dieckmann: Woher sind wir geboren
Mit of­fe­nem Mund liest man noch­mal (man er­in­nert sich wie­der dun­kel, dass man es schon ein­mal mit Stau­nen ver­nom­men hat) wie am 20. und 21. Ja­nu­ar 1990 ei­ne vom vor­aus­ge­gan­ge­nen Son­der­par­tei­tag der SED ein­ge­setz­te Schieds­kom­mis­sion prak­tisch die gan­ze DDR-Füh­rungs­rie­ge in ein­em Akt pseu­do­selbst­kri­ti­scher In­sze­nie­rung aus der Par­tei warf. Letzt­lich war das ein Akt pa­ni­scher Selbst­ent­haup­tung der DDR-Füh­rung, nach­dem die­ser durch ei­ne Schus­se­lei von Schalk-Go­lod­kow­ski die Mau­er, ei­ne der we­sent­li­chen Grund­la­gen ihrer Macht, weg­ge­bro­chen war.
Es ge­lingt Christoph Dieck­mann mit ei­ner Viel­zahl an (auto-)­bio­gra­phi­schen Epi­so­den deut­lich zu ma­chen, wie un­ter­schied­lich, aber auch wie ähn­lich die Zei­ten die Men­schen in Ost und West ge­prägt ha­ben. Da­rin liegt für ei­nen Wes­si wie mich der un­schätz­ba­re Wert des Bu­ches.
Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa
Paul Kalanithi: When Breath Becomes Air

Zwei Bü­cher über und von Men­schen über die Zeit vor ihrem Tod, wo sie schon wis­sen, dass sie ster­ben wer­den:

„Nur der lie­be Gott darf mich wecken.” steht wäh­rend der letz­ten drei Ta­ge sei­nes Le­bens auf ei­nem Schild auf dem Nacht­tisch des 10-Jäh­ri­gen un­heil­bar an Krebs er­krank­ten Os­kar. Es ist die ‚‚Da­me in Ro­sa‘‘, die Os­kar bei­steht, als sei­ne El­tern da­zu nicht mehr in der La­ge sind, weil sie es nicht aus­halten, dass ihr Kind dem To­de ge­weiht ist. We­der sie noch Dr. Düs­sel­dorf, der be­han­deln­de Arzt, ha­ben die rich­ti­gen Wor­te, die Os­kar jetzt braucht. 13 Briefe an den lie­ben Gott schreibt Os­kar. Eric-Em­ma­nu­el Schmitt ge­lingt in dem Buch ei­ne tief­trau­ri­ge Ge­schich­te, die der Trau­er Raum gibt und es den Le­ser(in­ne)n mög­lich macht, sich bei all dem Schrecken Os­kar ganz na­he zu füh­len.

Trotz al­ler In­tel­lek­tu­ali­tät ge­lingt es auch Paul Ka­la­ni­thi eine Nä­he her­zu­stel­len. Mit 36 Jah­ren hat er sei­ne Aus­bil­dung zum Neu­ro­chir­ur­gen fast ab­ge­schlos­sen. Ein in­o­pe­rab­les Lun­gen­kar­zi­nom be­en­det sei­ne stei­le Kar­ri­ere ra­di­kal. Er be­schreibt in sei­nem Buch den Rol­len­wech­sel vom Me­di­zin­stu­den­ten zum an­er­kann­ten und ge­schätz­ten Arzt und dann zum Pa­tien­ten. Er stellt sich der Fra­ge was noch bleibt, wenn al­les weg­fällt, was das Le­ben be­deut­sam ge­macht hat und was noch bleibt, wenn das Le­ben selbst zu En­de geht. Ein un­glaub­li­ches Buch.
Wibke Bruhns: Meines Vaters Land Geschichte einer deutschen Familie
Wibke Bruhns Vater war hoch­de­ko­rier­ter Of­fi­zier im ers­ten und im zwei­ten Welt­krieg. Wib­ke Bruhns war 6 Jah­re alt, als ihr Va­ter nach dem At­ten­tat auf Hit­ler im Ju­li 1944 ver­haf­tet wur­de. Er wur­de aus der Wehr­macht aus­ge­sto­ßen, da­mit er als Zi­vi­list vor Freis­lers Volks­ge­richts­hof ge­stellt wer­den konn­te (Die mi­li­tä­ri­sche Ge­richts­bar­keit war dem Na­zi­re­gi­me da zu un­zu­ver­läs­sig.). Er wur­de zum Tod durch den Strang ver­ur­teilt, weil er von den At­ten­tats­plä­nen auf Hit­ler ge­wusst hat­te und die At­ten­tä­ter und ih­re Hel­fer (sein Vet­ter 2. Gra­des und Ehe­mann sei­ner Toch­ter hat­te den Spreng­stoff für das At­ten­tat be­schafft.) nicht ver­ra­ten hat.
1987 stieß die Au­to­rin auf Film­ma­te­rial, in dem Ihr Va­ter vor dem Volks­ge­richts­hof zu se­hen ist. Da be­gann sie die Ge­schich­te ih­res Va­ters zu re­cher­chie­ren. Re­sul­tat ih­rer Re­cher­che ist die­ses be­ein­drucken­de Buch.
Sie zeigt Ver­ständ­nis für Ih­re Mut­ter in dem Re­sü­mee: „Heu­te weiß ich, daß vie­le der 20.-Juli-Wit­wen ge­gen­ü­ber ih­ren Kin­dern ge­schwie­gen ha­ben. Es war ein Schwei­gen, wo Fra­gen sich ver­bot. Die Zu­mu­tung wur­de von bei­den Sei­ten ver­mie­den.”
Die­ses Schwei­gen über ih­re (an­fäng­li­che ?) Be­geiste­rung über das 3. Reich und das, was das nach dem 2. Welt­krieg mit Ih­nen ge­macht hat, ha­be ich in mei­ner Kind­heit und Ju­gend im­mer dann bei den An­de­ren wahr­ge­nom­men, wenn Ein­zel­ne dann doch ein­mal über die­se Zeit ge­spro­chen und be­rich­tet ha­ben. Wahr­schein­lich ist das auch ei­ner der Grün­de, wa­rum mich das Buch so fas­zi­niert.
Benjamin Ferencz: Sag immer Deine Wahrheit
„Ben­ja­min Fe­rencz blickt auf 100 Jah­re ei­nes be­mer­kens­wer­ten Le­bens zu­rück. Er war Chef­an­klä­ger in den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen nach dem 2. Welt­krieg. Un­er­müd­lich hat er sich für ei­ne ge­rech­te und fried­li­che Welt ein­ge­setzt.” Spä­ter war er da­bei, als in Den Haag der in­ter­na­tio­na­le Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te ein­ge­rich­tet wur­de.
Raed Saleh, Markus Frenzel (Co-Autor): Ich deutsch Die neue Leitkultur
Raed Saleh kam als Fünf-­Jäh­ri­ger von Pa­läs­ti­na nach Deutsch­land. Wenn es so etwas gibt, wie „ge­lun­ge­ne In­te­gra­tion” in der neu­en Hei­mat, dann ist Raed Saleh das beste Bei­spiel da­für.
Mit dem Ti­tel „Ich deutsch” ko­ket­tiert er mit dem Vor­ur­teil, dass Men­schen mit Mi­gra­tions­hin­ter­grund die deu­tsche Spra­che un­voll­kom­men be­herr­schen und da­mit ei­gent­lich nicht in der La­ge sind, die deutsche Kul­tur voll­kom­men zu ver­ste­hen, und etwas Ad­äqua­tes da­zu zu sa­gen. Er plä­diert für eine ne­ue deutsche Leit­kul­tur, die nicht mehr die Au­gen vor den ak­tu­el­len Ent­wick­lun­gen ver­schließt. An vie­len in­ter­es­san­ten Bei­spie­len skiz­ziert er, wie so ei­ne neue Leit­kul­tur sei­ner Mei­nung nach aus­se­hen müsste.
Thea Dorn: deutsch, nicht dumpf Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten
Thea Dorn geht es letzt­lich auch um das, was Leit­kul­tur sein könn­te. Sie re­flekt­iert, was pas­siert, wenn jeder unter „Deutsch­land” et­was An­de­res ver­steht. Wo bleibt dann das „wir”?
Sasa Stanisic: HERKUNFT
Wo­her kom­men wir und was hat das für Fol­gen für das hier und jetzt.
Man er­fährt viel über das ehe­ma­li­ge Ju­so­sla­wien und doch viel über uns.
Jana Hensel: Zonenkinder
Jana Hensel, Wolfgang Engler: Wer wir sind Die Erfahrung Ostdeutsch zu sein
Jana Hensel: Wie alles anders bleibt
Naika Foroutan, Jana Hensel: Die Gesellschaft der Anderen

Letzt­lich wa­ren das für mich wich­ti­ge Bü­cher, die mir als Wes­si ge­hol­fen ha­ben die „Ost­deu­tschen” bes­ser zu ver­ste­hen.

Das neu­este Buch, „Die Ge­sell­schaft der An­de­ren” han­delt da­von, dass Ost­deutsche und Mi­gran­ten zu­sam­men 50% der Be­völ­ke­rung der Bun­des­re­pub­lik stel­len. Bei­de Grup­pen sind in den Ent­schei­dungs­gre­mien des Lan­des deut­lich un­ter­re­prä­sen­tiert. Jana Hensel und Naika Foroutan dis­ku­tie­ren das in ei­ner Art „Streit“­schrift.
Frank Goldammer: Zwei fremde Leben
Ein­mal kein Kri­mi von dem an­sonsten als Krimi-­Au­tor be­kann­ten Frank Gold­am­mer. Frank Gold­am­mer be­schreibt sein Buch als „Spu­ren­su­che”. Es geht um die Frage in­wie­weit die DDR als Staat ver­ant­wort­lich war für Kinds­ent­füh­run­gen und Zwangs­a­dop­tio­nen.
Jochen Schmidt, David Wagner: Drüben und drüben Zwei deutsche Kindheiten
Zwei Anfang der 70er-­Jah­re ge­bo­re­ne Schrift­stel­ler, ein Os­si, ein Wes­si, be­schrei­ben ih­re Kind­heit. Bei­den wird ge­sagt, „Drüben” sei die Welt schlech­ter. Ge­ra­de in die­ser Ge­gen­ü­ber­stel­lung ein fas­zi­nie­ren­des Buch...
Hans J. Massaquoi: »Neger, Neger, Schornsteinfeger!« Meine Kindheit in Deutschland
Hans J. Massaquoi be­schreibt in sei­ner außer­ge­wöhn­li­chen Au­to­bio­graphie sei­ne Kind­heit und Ju­gend zwi­schen 1926 und 1948 als ei­ner der we­ni­gen schwar­zen Deutschen in die­sem Land.
Peter Jacobs: Victor Klemperer, Im Kern ein deutsches Gewächs Eine Biographie
Eine Biographie über den berühmten Autor der Schrift Die Spra­che des Drit­ten Rei­ches. Be­ob­ach­tun­gen und Re­flexio­nen aus LTI (LTI= ‚‚Lingua ter­tii im­pe­rii’’ → auf deutsch:‚‚Spra­che des drit­ten Rei­ches’’). Aus mei­ner Sicht ist die La­ti­ni­sie­rung des Aus­drucks "Drit­tes Reich" eine Art sprach­li­che Distan­zie­rung des Au­tors, um die von der Na­zi-Pro­pa­gan­da ge­lieb­te Be­zeich­nung ver­mei­den zu kön­nen.
Günter de Bruyn: Vierzig Jahre - Ein Lebensbericht
Gün­ter de Bruyn be­rich­tet in sei­ner Au­to­bio­gra­phie über 40 Jah­re Leb­en in der DDR. Das Be­son­de­re da­ran ist, dass er sehr ehr­lich auf­zeigt, wel­che ‚‚Kom­pro­mis­se’’ und wel­che Ver­bie­gun­gen ein sol­ches Le­ben mit sich bringt. Er tut das so ehr­lich, dass man ge­zwun­gen ist sich zu fra­gen, „Wie hät­te ich mich in die­ser Si­tu­a­tion ver­hal­ten. Hät­te ich die Kraft ge­habt Un­recht zu wi­der­ste­hen oder hät­te auch ich mich auf ir­gend­wel­che ‚‚Kom­pro­mis­se’’ ein­ge­las­sen?”
Alexander Asisi: DIE DRESDNERIN
Der Nef­fe von Ya­de­gar A­si­si hat einen Kri­mi her­aus­ge­bracht. Der Kri­mi spielt in der Zeit des Kriegs­endes in Dres­den, im Februar 1945, zur Zeit der gro­ßen Bom­bar­die­rung der Stadt. Das ist kein Zu­fall, schließ­lich hat der On­kel des Au­tors die Bom­bar­die­rung im Pa­no­me­ter in Dres­den bild­lich zur Dar­stel­lung ge­bracht. Von den Re­cher­chen zu die­sem Er­eig­nis hat Ale­xan­der Asi­si man­ches mit­be­kom­men. Das tat dem Buch gut: Al­les in Al­lem ein span­nen­der Kri­mi.
Harald Jähner: Wolfszeit Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955
Wenn ich ei­nen völ­lig fal­schen Ein­druck von dem Buch er­wecken möch­te, könn­te ich schrei­ben „Noch so ein Nach­kriegs­buch”... Ja, aber was für ein fas­zi­nie­rend Ge­schrie­ben­es. Für mich gab es ei­nen Ein­blick in das Den­ken und Füh­len der Men­schen in den 50er-­Jah­ren, den ich vor­her so nicht hat­te.
Rhidian Brook: Niemandsland
Die En­ke­lin schreibt ein be­we­gen­des Buch üb­er die Zeit um 1946, als ihr Groß­va­ter Of­fi­ier der eng­li­schen Be­satzungs­ar­mee in Ham­burg war.
Mechtild Borrmann: Trümmerkind
Ein Kri­mi­nal- und zug­leich histo­ri­scher Ro­man und ei­ne Fa­mi­lien­ge­schich­te, die in der Zeit im Jahr­hun­dert­win­ter 1946/47 spielt. Wirk­lich ein Buch, das sich zu le­sen lohnt. Es fällt schon auf, dass es in letz­ter Zeit immer mehr Bü­cher gibt. die sich mit der un­mit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit be­schäf­ti­gen. Die Büc­her wer­den ja ge­kauft (Of­fen­sicht­lich auch von mir!). Es scheint in un­se­rer Ge­sell­schaft ge­ra­de ein neu­es Be­dürf­nis zu ge­ben, sich mit die­ser Zeit zu be­schäf­ti­gen.
­ Peter Prange: Eine Familie in Deutschland
Band 1 → Zeit zu hoffen, Zeit zu leben
Band 2 → Am Ende die Hoffnung

Es han­delt sich um die Ge­schich­te ei­ner Fa­mi­lie in der Zeit des 3. Rei­ches. Band 1 er­zählt die Zeit von der Macht­er­grei­fung der Na­zis bis kurz vor dem Sep­tem­ber 1939 und Band 2 er­zählt die Ge­schich­te wäh­rend des 2. Welt­kriegs bis 1955.

Für uns nach dem 2. Welt­krieg Ge­bo­re­ne ein er­schrecken­der Ein­blick, wie Ideo­lo­gie von der Über­le­gen­heit der ari­schen Ras­se nach und nach al­le mo­ra­li­schen Wer­te und letzt­lich auch jeg­li­chen Ge­mein­sinn kor­rum­piert, so dass sich je­der selbst der Näch­ste ist.


Die fol­gen­de Über­le­gung hat nichts un­mit­tel­bar mit dem Buch zu tun, dräng­te sich mir aber, nach­dem ich die bei­den Bän­de ge­le­sen hat­te doch auf:
Ich glau­be, dass die Er­fah­rung­en des 2. Welt­kriegs zu der Zeit, als ich auf­ge­wach­sen bin, noch in dem Sin­ne nach­gewirkt ha­ben, dass da­mals bei der Mehr­heit der Be­völ­ke­rung ein, wenn auch schwa­ches, so doch kla­res Ge­fühl vor­han­den war, dass so et­was nicht mehr pas­sie­ren darf und dass Al­le an Bildungschancen und an den ma­te­ri­el­len und kul­tu­rel­len Gü­tern teil­ha­ben müs­sen, da­mit eine Ge­sell­schaft funk­tio­niert. Die­ses Be­wusst­sein, wie gefährlich so eine Des­in­te­gra­tion der ge­sell­schaft­li­chen Grup­pen ist, fehlt heu­te.
Monika Helfer: Die Bagage
Öster­reich, Vor­arl­berg, zur Zeit des ersten Welt­krie­ges: Jo­sef Moos­brug­ger und sei­ne über­aus schö­ne Frau Maria le­ben mit ih­ren Kin­dern am Rand ei­nes Berg­dor­fes. Sie sind arm und woh­nen oben am Berg­hang. Den­noch schau­en die Dorf­be­woh­ner auf die Fa­mi­lie herab und ti­tu­lie­ren die Fa­mi­lie als „Ba­ga­ge”.
Als Jo­sef Moos­brug­ger zum Mi­li­tär muss, bit­tet er den Bür­ger­meister als Be­schützer sei­ner Frau und sei­ner Kin­der zu fun­gie­ren. Als er aus dem ver­lo­re­nen Krieg zu­rück­kommt, ver­däch­tigt er se­ine Frau, dass ei­nes sei­ner Kin­der nicht von ihm stammt.
Ein span­nen­des Buch da­rüber, wer in der Ge­sell­schaft an­er­kannt ist und wer nicht und was das mit den Men­schen macht. Nicht zu­letzt geht's ne­ben­bei auch da­rum, dass der här­teste Sex eben eh­er in der Phan­tasie der Leu­te statt­fin­det als in der Re­ali­tät.
Juli Zeh: Neujahr
Juli Zehs neu­er Ro­man „Neu­jahr” kreist um eine Fi­gur, die in der Li­te­ra­tur noch recht un­ge­wöhn­lich ist: um den über­for­der­ten Va­ter.
Navid Kermani: Ungläubiges Staunen Über das Christentum
Noch nie habe ich von ei­nem Au­tor, der selbst Mos­lem ist, Tief­grün­di­ge­res über das Christen­tum le­sen kön­nen. Als evan­ge­li­scher Christ in theo­lo­gi­schen Fra­gen nicht ge­ra­de un­be­wan­dert, konn­te ich noch et­was über das Christen­tum ler­nen. Zu­gleich zeigt das Buch We­ge auf, wie Mos­lems und Christen zu­ein­an­der fin­den kön­nen. Na­vid Ker­ma­nis schafft qua­si ei­ne „In­nen­an­sicht des Christen­tums von au­ßen”! → Sehr zu em­pfeh­len!
Rafik Schami: Sophia, oder der Anfang aller Geschichten
Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals
Rafik Schami: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte Oder wie ich zum Erzähler wurde
Rafik Schami: Der ehrliche Lügner Roman von tausendundeiner Lüge
Die Bü­cher von Ra­fik Scha­mi in­ter­es­sie­ren mich zum Ei­nen, weil sie mir hel­fen die ara­bi­schen Län­der und ih­re Kul­tur bes­ser zu ver­ste­hen. Zum An­de­ren fas­zi­niert er mich als ein Mensch, der er­folg­reich den Wech­sel in eine an­de­re Kul­tur ge­schaft und li­te­ra­risch ver­ar­bei­tet hat.
Anne Tyler: Redhead by the Side of the Road
An­geb­lich ein Lie­bes­ro­man. Nor­ma­ler­wei­se le­se ich kei­ne Lie­bes­ro­ma­ne. Die­ser ist aber ein­zig­ar­tig, so dass so­gar ich ihn le­sen kann.
← Diese Ausgabe des Buches gibt es anscheinend nur noch antiquarisch.
Nancy Werlin: Double Helix auf englisch
Nancy Werlin: Double Helix auf deutsch (erschien auf deutsch auch unter dem Titel Chromosom 4)
Hier klaue ich mir 'mal wie­der den Text der Buch­be­spre­chung von buecher.de:
‚‚Dou­ble He­lix er­zählt die Ge­schich­te von Eli Samuels, der nach sei­ner Schul­zeit ei­ne Stel­le am La­bor für Mo­le­ku­lar­bio­lo­gie des renom­mier­ten Dr. Quincy Wyatt er­hält. Aber wa­rum will Elis Va­ter par­tout nicht, dass er dort ar­bei­tet? Wel­che selt­sa­me Ver­bin­dung be­steht zwi­schen sei­nen El­tern und dem skru­pel­lo­sen Dr. Wyatt? Und wer ge­nau ist die rät­sel­haf­te Kay­la, die ihm so ver­traut scheint? Elis Mut­ter lei­det in­zwi­schen an ei­ner ver­erb­li­chen Er­kran­kung des Ner­ven­sys­tems im fort­ge­schrit­te­nen Sta­dium, doch sein Va­ter bleibt Eli jede Er­klä­rung schul­dig. Schließ­lich muss er sich selbst auf die Su­che nach Ant­wor­ten be­ge­ben, um da­bei he­raus­zu­fin­den, wer er in Wirk­lich­keit ist.’’
Paul Auster: 4 3 2 1
Jeffrey Archer: Traum des Lebens

Die bei­den Bücher ha­ben ge­mein­sam, dass sie nicht nur eine Ver­sion son­dern meh­re­re Ver­sio­nen der Ge­schich­te er­zäh­len.

Paul Auster er­zählt die Ge­schich­te sei­nes Hel­den Archi­bald Fer­gu­son in vier ver­schie­de­nen Vari­an­ten. Archi­bald Fer­gu­son wächst im Ame­ri­ka der Fünf­zi­ger- und Sech­zi­ger­jah­re auf. Es geht um Pro­test ge­gen den Viet­nam­krieg, Stu­den­ten­re­vol­te und Ras­sen­un­ru­hen. Es ist nicht nur so, dass je­der der vier Ab­schnit­te ei­ne an­de­re Va­ri­an­te schil­dert, wie das Le­ben des Archi­bald Fer­gu­son hät­te ver­lau­fen kön­nen. Je­de Va­ri­an­te bringt auch an­de­re Ein­blicke in das Le­ben in den USA in den Fünf­zi­ger- und Sech­zi­ger-Jah­ren. Span­nend.

Jeffrey Archers Roman­handl­ung be­ginnt im Jah­re 1968: Am Ha­fen von Lenin­grad müs­sen der junge Ale­xan­der Kar­pen­ko und se­ine Mut­ter auf der Flucht vor dem KGB ent­schei­den, auf wel­ches Schiff sie sich als blin­de Pas­sa­gie­re schlei­chen. Ein Schiff fährt nach Groß­bri­tan­nien, das an­de­re in die in die USA. Der Wurf einer Mün­ze soll ent­schei­den, wo es hin­geht. Tat­säch­lich schil­dert das Buch auf fas­zi­nie­ren­de Wei­se bei­de Ver­sio­nen der ge­lun­ge­nen Flucht: Von der nach Lon­don und von der nach New York.
Irvin D. Yalom: Wie man wird, was man ist Memoiren eines Psychotherapeuten
Für mich als je­mand, der in der Psychia­trie ar­bei­tet, eine Pflicht­lek­türe, die man nicht als Pflicht er­lebt.
Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war Alle Toten fliegen hoch, Teil 2 (von 5)

Hier über­neh­me ich ein­mal den Text der Buch­be­spre­chung von www.buecher.de: „Ein brül­lend ko­mi­scher und tief­trau­ri­ger Ro­man über ei­nen Jun­gen, der als Sohn des Di­rek­tors ei­ner Kin­der- und Ju­gend­psy­chia­trie am bes­ten schläft, wenn nachts die Schreie der Pa­ti­en­ten hal­len, der Bluts­brü­der­schaft mit dem Hund schließt und dem Dop­pel­le­ben sei­nes Va­ters­ auf die Spur kommt - ei­nem fas­zi­nie­ren­den Mann, der in der Theo­rie glänzt, in der Praxis ver­sagt, vol­ler Le­bens­freu­de ist und doch nichts ge­gen sein viel zu frü­hes En­de tun kann.”
John Williams: Augustus
Oc­ta­vius, Groß­nef­fe und Adop­tiv­sohn von Ju­lius Cae­sar, spä­ter­er Kai­ser Au­gustus. Der Au­tor schil­dert das Le­ben von Au­gus­tus so, dass wir ganz viel über das Le­ben in der An­ti­ke er­fah­ren und da­bei Emo­tio­nen und was die Men­schen da­mals an­trieb, plastisch und nach­voll­zieh­bar wird.
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen, Ei­ne Buch-Restau­ra­to­rin er­hält den Auf­trag die Fa­mi­li­en­bi­bel ei­ner ar­me­ni­schen Fa­mi­lie zu restau­rie­ren. Die Re­staura­to­rin be­ginnt vor Ort in Ar­me­nien Nach­for­schun­gen an­zu­stel­len und er­fährt da­bei Ent­schei­den­des über ih­re ei­ge­ne aus Ar­me­ni­en stam­men­de Fa­mi­lie.
Yishai Sarid: Monster
"Ein is­ra­eli­scher Tour­guide streckt im Kon­zen­tra­tions­lag­er von Treb­lin­ka ei­nen deut­schen Do­ku­men­tar­fil­mer mit ei­nem Faust­schlag nie­der." Das Buch hat mir klar­ge­macht, dass das An­den­ken an den Ho­lo­caust für Ju­den heut­zu­ta­ge ge­nau­so ei­ne He­raus­for­de­rung ist, wie für uns, die Nach­fah­ren der Tä­ter.
Naomi Alderman: Ungehorsam
Deborah Feldman: Unorthodox
Deborah Feldman: Überbitten
Das erste der drei Bü­cher han­delt von ei­ner Rück­kehr: Die Ich-Er­zäh­le­rin kommt aus New York. Nach dem Tod ih­res Va­ters kehrt sie nach Lon­don, in die ortho­doxe jü­di­sche Ge­mein­schaft zurück, der ihr Vater vor­mals als Rab­bi vor­stand. Das zweite be­schreibt das Le­ben von De­bo­rah Feid­man in ei­ner sol­chen or­tho­doxen jü­di­schen Ge­mein­schaft und das drit­te Buch be­schreibt, wie De­bo­rah Feid­man die or­tho­do­xe jü­di­sche Ge­mein­schaft ver­lässt und am En­de in Ber­lin ein neu­es Le­ben be­ginnt.
Albrecht Mälzer